Kapitel 20 - Vater-Tochter-Gespräch

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"Wie kann er nur so ein Vollidiot sein?" posaunte Kyra lautstark auf der Straße herum. Die Blicke vorbeigehender Menschen trafen uns.

"Du musst ihn auch verstehen. Für ihn handelt es sich hierbei um Hochverrat. Das ist irgend so ein merkwürdiger Bro-Kodex. Ähnlich wie 'Die Ex-Freundin des besten Freundes ist tabu'." versuchte ich Tims handeln zu erklären.

"Es gibt einfach Situationen im Leben, da sollte man darüber nachdenken, ob es nicht vielleicht doch Sinn macht, klug zu handeln und über irgendeinen Kodex hinwegschaut. Das war schwere Körperverletzung! Tim hätte sterben können, wenn es da nicht Leute gegeben hätte, die eingegriffen hätten." verzweifelt schüttelte Kyra den Kopf. Für sie war Tim ein Dummkopf, wenn sie die Sache jedoch objektiv sehen würde, würde sie Tim zumindest verstehen können.

"Vielleicht überlegt er es sich ja nochmal anders." versuchte ich dieses sensible Thema schließlich in eine versöhnliche Richtung zu lenken.

"Als ob. Du hast ihn doch gehört. Er wirkte so überzeugt, dass sein Weg die richtige Entscheidung ist. Davon wird er nicht abweichen. Aber gut. Soll er doch machen. Wenn er das nächste Mal durch diesen Psychopathen im Krankenhaus liegen sollte, werde ich bestimmt nicht diejenige sein, die ihn besucht." Kyra reagierte wie ein trotziges Kind. Ich konnte sie genauso verstehen, wie ich Tim verstehen konnte.

Mit diesem Akt der Gewalt hatte Mark Thalbach für unglaubliches Aufsehen gesorgt. Würde man die gesamte Schülerschaft in A bis Z-Prominente einteilen, hätte er es mit diesem Skandal locker in die Riege der A-Prominenten geschafft. Sicherlich konnte man das als zweifelhaften Ruhm abtun, aber viele Leute interessiert doch gar nicht, wofür sie bekannt waren. Hauptsache sie standen im Mittelpunkt jeder Unterhaltung.

Das Tim auf eine Anzeige verzichtete, bedeutete für mich aber auch gleichsam, dass Mark definitiv nach der Suspendierung an unsere Schule zurückkehren würde. Ich war mir ziemlich unsicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, immerhin hatte ich keine Ahnung, ob er sich in der nächsten Woche verändern würde. Der Einfluss seiner Mutter plus die professionelle Hilfe, die man ihm garantiert hatte, könnten sicherlich ihre Spuren hinterlassen. Für mich war eine Woche aber weitaus zu wenig, um einen komplett neuen Menschen aus ihm zu machen. 

Zeitweise hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Sandra Thalbach in ihrer Praxis zu besuchen und mir einen Termin geben zu lassen. Ich wollte einfach mit ihr über all die Themen reden, die mich belasteten - hatte sie sich doch bei unserem Hausbesuch als Psychologin für Mobbingopfer angepriesen. Die Ironie, das ihr Sohn der schlimmste Mobber der Schule war, war unverkennbar. Es wurde wohl nur allzu deutlich, das der Ruf der gesamten Familie Thalbach auf dem Spiel stand, wenn herauskommen würde, das Mark derartig aufgestellt war.

Für einen Augenblick kam mir der Gedanke, das Tim auch gelogen haben könnte. Vielleicht waren nicht wir die ersten Besucher, sondern die Familie Thalbach. Und möglicherweise hatten die dem Opfer eine hohe Entschädigungssumme zugesprochen, wenn er von einer Anzeige absehen würde. Das würde zumindest den Tunnelblick erklären, den er in diesem Gespräch an den Tag gelegt hatte. Für mich wirkte es aber wirklich wie ein schlechter Film, wenn die Eltern des Täters extra zum Opfer fuhren, nur um ihm eine hohe Geldsumme zu versprechen, wenn er keine Anzeige erstattete. 

Ich war verwundert, das Kyra noch nicht auf diesen Gedanken gekommen war. Meine Absicht war es aber auch nicht, ihr da irgendwelche Flausen in den Kopf zu setzen. Nachher würde sie selbst zur Polizei gehen und die Thalbachs wegen Bestechung oder Erpressung anzeigen und damit vielleicht einen ganz großen Irrtum auslösen. Deswegen behielt ich diesen Gedanken ausnahmsweise mal für mich. Kyra schien momentan ohnehin nicht so empfänglich für dieses Thema. Alles, was sie damit in Verbindung brachte, war die Tatsache, das Tim in ihren Augen ein Vollidiot war.

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