Am folgenden Morgen hatte der Regen nachgelassen und die staubige, fest gebackene Erde in Schlamm verwandelt. Rebecca führte die angekündigte Visite bei ihrem jungen Patienten durch, welcher nach Tinys Auskunft die ganze Nacht durchgeschlafen habe. Der Junge war inzwischen wach und offenbar bei klarem Bewusstsein, was Rebecca zuversichtlich bezüglich seiner medizinischen Prognose stimmte, denn scheinbar gab es keine schwerwiegenden Verletzungen des Gehirns. Sie versprach, übermorgen noch einmal zum Verbandswechsel hereinzuschauen. Bevor sie ging, murmelte der Junge ein kleines „Danke" und lächelte sie schwach an. Rebecca erwiderte das Lächeln und nickte kurz burschikos, um ihre Verlegenheit zu überspielen, denn sie war schließlich keine Ärztin und hatte ja auch gar nicht viel tun können.
Kathryn brachte Rebecca zu Pferde wieder nachhause, da es bei all dem Matsch für sie beschwerlich gewesen wäre, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Daheim wurde sie bereits von Felicity mit dem Frühstück erwartet.
Kathryn trat ein und betrachtete das gemütliche, warme Zuhause der beiden Frauen: Ein Holzhaus mit indianischen Wandteppichen, schweren, alten Holzmöbeln und einem brennenden Kamin. Sie spürte Traurigkeit und Sehnsucht in sich aufsteigen. Ein liebevolles, Sicherheit spendendes Heim für sich und die Geliebte: Das hatte sie sich eines Tages auch für Liz und sich selbst gewünscht.
Das, und viel mehr Zeit!
„Möchtest du zum Frühstück bleiben, meine Liebe?" erkundigte sich Felicity.
„Nein, vielen Dank, aber ich muss wieder rüber", antwortete Kathryn rasch und verbarg ihre wahren Gefühle hinter einem Lächeln.
Sie umarmte ihre Freundinnen kurz, bedankte sich bei Rebecca für die Hilfe, um dann beinahe fluchtartig aufzubrechen.
Auf dem Rückweg erlaubte sie sich einen Moment des Selbstmitleids. Den Tod Elizabeths konnte sie auch nach vier Jahren immer noch nicht begreifen. Wie konnte jemand, um den sich ihre ganze Welt gedreht hatte, an einem Tag noch da sein und am nächsten für immer fort? Manchmal hatte Kathryn das Gefühl, auch sie selbst sei damals irgendwie abgestorben. Natürlich war sie noch hier, aß, schlief, sprach, lachte sogar; ganz so wie früher, doch etwas fehlte in jedem einzelnen Augenblick. Alles fühlte sich viel weniger wichtig und in manchen Momenten kaum noch real an; so als sei sie ein Geist; nicht mehr wirklich ein Teil dieser Welt. Zwar war die Trauer nicht mehr dieselbe wie am Anfang, als die Verzweiflung und Wut noch so gewaltig waren, dass sie nicht gewusst hatte, wie sie damit weiterleben sollte; stattdessen waren da heute diese Taubheit und Freudlosigkeit, welche sie ständig begleiteten, ebenso wie die Frage, wieso das Leben eigentlich immer noch weiterging, mit jedem Morgen an dem sie erwachte? Welchen Sinn konnte das nun noch haben?
Als Kathryn zurückkehrte, waren bereits alle Haushaltsmitglieder erwacht und saßen beim Frühstück. Es fehlte nur Tiny, der, wie sie vermutete, immer noch Wache am Bett von Joseph Harper hielt. Er hatte sich gestern ein Feldbett in den Raum gestellt und dem Verletzten großzügig seine eigene Schlafstätte überlassen.
Kathryn ging hinauf und winkte Tiny aus dem Krankenzimmer, um allein mit ihm sprechen zu können:
„Hat der Kleine schon irgendwas erzählt; wie er hergekommen ist oder wer ihn in diesen Zustand versetzt hat?" wollte sie wissen.
Tiny schüttelte den Kopf:
„Nein, ich wollte ihn aber auch nicht bedrängen."
Kathryn zog kurz eine Augenbraue hoch, vor Überraschung über die seltsame Fürsorge und Rücksichtnahme gegenüber einem möglicherweise gefährlichen Fremden:
„Du magst den Jungen." stellte sie fest.
Tiny dachte eine Weile nach, ehe er antwortete:
„Ich hab' ein gutes Gefühl bei ihm. Er erinnert mich an uns beide früher: Zu viel gesehen für sein Alter, zäh, aber auch sehr verletzt!"
DU LIEST GERADE
Die Leute von Millers Landing
AçãoWir schreiben das Jahr 1903. Es gibt da ein besonderes Haus am Stadtrand des kleinen Örtchen Millers Landing im Staate Pennsylvania. Die Leute die dort leben sind Außenseiter. Man meidet sie, weil sie Prostituierte sind, Homosexuelle, oder die Nachf...