In den nächsten beiden Wochen ließ James sich nicht im Roten Haus blicken und Kathryn wurde mit jedem Abend, an welchem er nicht erschien übellauniger. Als sie dann auch noch selbst realisierte, wie viel es ihr ausmachte, dass er nicht mehr kam, verschlechterte dies ihre Stimmung lediglich noch weiter.
Innerlich verfluchte sie James, weil er mit ihrer Zurückweisung nicht umgehen konnte. Die Gespräche mit ihm hatten ihr viel bedeutet. Sie begriff erst jetzt, was er im Grunde für ein besonderer Mensch war. Er war jemand der aus guten Verhältnissen stammte und zuvor von der Welt nicht allzu viel gesehen hatte und man konnte nicht leugnen, dass die Bewohner des Roten Hauses ihm in kurzer Zeit so manches zugemutet hatten, mit dem die meisten normalen Leute nicht umgehen konnten und wollten. James jedoch hatte sich stets einen offenen Geist bewahrt, seine bisherigen Sichtweisen hinterfragt und die Dinge akzeptiert, wie sie waren.
Kathryn vermisste seine gutmütige, wohlwollende, teilweise etwas naive Art, die Menschen und die Welt zu beurteilen. Ihre eigenen Verhärtungen, die so mancher üblen Erfahrung in ihrem Leben geschuldet waren, weichten dadurch ein wenig auf und sie musste zugeben, dass dies eine wahre Wohltat war.
Doch nun war James fort und würde vielleicht nicht wiederkommen.
Zum Teufel mit ihm! Er sollte zur Hölle fahren, wenn er wegen einer solchen Lappalie bereit war, alles, was zwischen ihnen entstanden war, so leichthin enden zu lassen, entschied sie ärgerlich!
James dachte in jeder Minute immer nur an Kathryn. Er stellte sich ihr schönes Gesicht, ihre elegante Erscheinung und den Klang ihrer Stimme vor. Es tat ihm beinahe körperlich weh, sie nicht zu sehen, doch er brachte es trotzdem einfach nicht fertig, zu ihr hinüber zu gehen. Es war nicht nur die Scham über sein unangemessenes Verhalten und Kathryns Zurückweisung, die ihn abhielten, sondern es ging mittlerweile vor allem darum, dass er sich nichts mehr darüber vormachen konnte, was er sich wünschte: er wollte mehr für sie sein, als ein Freund und das konnte Kathryn ihm nun einmal nicht geben.
James wünschte so sehr, er könnte das für Kathryn sein, was sie brauchte, doch es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.
Und so schleppte er sich elend durch seine Tage, kam am Abend heim in sein stilles kleines Zimmer und verbrachte seine Zeit wieder allein, denn er hatte ja nicht nur Kathryn, sondern mit ihr auch die anderen neuen Freunde verloren.
Joe lag im Bett in Tinys Armbeuge, einen Arm und ein Bein um ihn geschlungen und betrachtete die merkwürdigen Schatten, welche das Licht der Öllampe an die Wand warfen:
„Was glaubst, du, warum James nicht mehr kommt?" wollte er wissen.
„Ich schätze, irgendetwas ist zwischen ihm und Kathryn vorgefallen." erwiderte Tiny bereits ein wenig schläfrig.
„Er war nicht mehr hier, seit er bei ihr übernachtet hat." fuhr Joe nachdenklich fort: „Meinst du, die beiden haben... ich weiß nicht... miteinander geschlafen oder so?"
„Das bezweifle ich!" erklärte Tiny: „Ich wundere mich nur, dass Kathryn mir nichts erzählt. Ihre Laune in letzter Zeit ist unerträglich. Es ist offensichtlich, dass sie James vermisst."
„Ich vermisse James übrigens auch." gab Joe zu.
„Aha!" machte Tiny mit einem Mal hellwach:
Der junge Mann hob den Kopf und fragte belustigt:
„Bist du etwa eifersüchtig?"
„Wieso? Habe ich denn einen Grund?" erkundigte sich Tiny scharf.
„James ist sehr gutaussehend und ein fantastischer Mensch..." begann Joe und wurde von Tiny unterbrochen:
„...und er ist jünger als ich!"
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Die Leute von Millers Landing
AksiWir schreiben das Jahr 1903. Es gibt da ein besonderes Haus am Stadtrand des kleinen Örtchen Millers Landing im Staate Pennsylvania. Die Leute die dort leben sind Außenseiter. Man meidet sie, weil sie Prostituierte sind, Homosexuelle, oder die Nachf...