Nach dem Frühstück stand Christian frisch gewaschen und rasiert, die Haare gekämmt und sorgfältig gescheitelt, die Fingernägel geschnitten und gesäubert, vor dem Haus und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während er auf Justine Carpenter wartete. Von Joe hatte er sich ein sauberes weißes Hemd geliehen, doch die einzige, die eine Hose für ihn gehabt hätte, die nicht zu kurz wäre war Alice, also hatte er mit zitternden Fingern bei ihr geklopft und sich innerlich schon auf eine barsche Abfuhr eingestellt.
Zu seiner Überraschung hatte sie dann doch eine ihrer heißgeliebten Hosen herausgerückt, aber darauf bestanden, sie baldmöglichst gewaschen zurückzubekommen.
Als Justine den zappelnden, angespannten, jungen Mann erblickte, musste sie schmunzeln:
„Na gut, mein Junge, ich will dich nicht länger auf die Folter spannen." erklärte sie: „Ich habe kürzlich den Schneider hier im Ort kennengelernt. Wir haben uns recht gut verstanden und vielleicht würde er dir, mir zu Gefallen eine Arbeit geben. Er ist nicht mehr ganz jung. Möglicherweise denkt er ja darüber nach, seine Künste an die nächste Generation weiterzugeben. Was sagst du?"
„Ich kenne den Mann vom Sehen." erwiderte Christian nachdenklich: „Als ich klein war, haben meine Eltern mich vor ihm gewarnt und gesagt, ich solle ihm aus dem Weg gehen und mich nicht allein von ihm erwischen lassen!" Es begann in Christians Gesicht zu arbeiten und dann verwandelte sich seine Miene in ein Lächeln: „Ich glaube, jetzt verstehe ich, wovor sie Angst hatten!"
Justine lachte:
„Ich schätze, für derlei Befürchtungen seitens deiner Eltern ist es nun wohl ohnehin zu spät, wie?"
„Definitiv!" erwiderte der Junge grinsend.
Die beiden machten sich auf den Weg:
„Ich weiß nicht, ob ich für diese Art der Arbeit geschaffen bin, aber ich versprechen, dass ich mein Bestes geben werde, wenn sie sich schon für mich einsetzen, Madame Carpenter!" versicherte Christian ernsthaft:
„Es freut mich, das zu hören!" entgegnete Justine.
Als sie bei der Schneiderei angekommen waren, erklärte sie:
„Ich denke, es wird am Besten sein, wenn du mich erst einmal allein mit Alexander sprechen lässt, mein Junge. Warte hier! Ich hole dich dann dazu, in Ordnung?"
Christian nickte und nahm auf den Stufen vor dem Laden Platz.
Der Schneider blickte überrascht von seiner Näharbeit auf und lächelte, als er Justine in sein Geschäft kommen sah. Er erhob sich und begrüßte sie mit Wangenküssen links und rechts:
„Ich hatte nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen, meine Liebe. Hat deiner Füchsin ihr Kleid etwa nicht gefallen? Oder passt es ihr nicht?" erkundigte er sich.
Justine lächelte:
„Nein, das ist es nicht. Das Kleid ist vollkommen und Kathryn liebt es! Ich bin heute hier, weil ich einen Gefallen von dir erbitten möchte."
Alexander blickte sie erstaunt an:
„Was könnte ich denn wohl für dich tun?" wollte er wissen.
„Vor der Tür sitzt ein junger Mann, der dringend eine Arbeit und eine Perspektive für sein Leben benötigt." begann Justine: „Er hat in der Vergangenheit einiges durchgemacht. Seine Eltern haben ihn aus dem Haus geworfen und er war eine Weile auf sich allein gestellt. Er hat Dinge erlebt und tun müssen, die ihm nicht gut getan haben. Die Frauen im roten Haus haben ihm ein Zuhause gegeben, aber sie können ihn natürlich nicht versorgen. Er braucht Arbeit, sollte einen Beruf erlernen. Hierbei habe ich an dich gedacht!"
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Die Leute von Millers Landing
AcciónWir schreiben das Jahr 1903. Es gibt da ein besonderes Haus am Stadtrand des kleinen Örtchen Millers Landing im Staate Pennsylvania. Die Leute die dort leben sind Außenseiter. Man meidet sie, weil sie Prostituierte sind, Homosexuelle, oder die Nachf...