10 Thanksgiving

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Seit der Geburtstagsfeier im August hatte James sehr viel Zeit mit Kathryn und ihren Freunden verbracht. Er kam ein bis zweimal pro Woche und immer erst spät am Abend, wenn die Bar bereits geschlossen hatte, um von niemandem gesehen zu werden. Manchmal saß er dann noch eine halbe Stunde oder Stunde mit Kathryn allein auf der Veranda des Wohnhauses oder in der Küche und sie tranken Tee, führte Gespräche und ließen den Tag ausklingen. Gelegentlich kam auch die eine oder andere Frau aus dem „Yasemines" oder Joe und gesellten sich hinzu. Ganz selten setzte sich sogar Tiny zu ihm, um ein paar Worte zu wechseln. Er begegnete James zwar noch immer mit einer gewissen Zurückhaltung, doch zur Freude des Deputys taute er allmählich ein wenig auf. James hätte nicht sagen können wieso, doch aud irgend einem Grund war ihm an Tinys Anerkennung gelegen.

Die Witwe Meyer wunderte sich, warum James an den Abenden nun häufig ausging und spekulierte, dass wohl ein junges Mädchen dahinterstecken musste. James beantwortete dies lediglich mit einem Lächeln.

Sheriff Snyder fiel auf, dass sein Deputy nun morgens häufig unausgeschlafen wirkte. James gab dann an, schlecht geschlafen zu haben. Dies wiederum kommentierte Snyder folgendermaßen: „Wenn du tagsüber tüchtig gearbeitet hättest, dann käme der Schlaf von ganz allein. Ich muss dich wohl mehr auf Trab halten, was Junge?"

Heute war Donnerstag, der 26. November. James hatte versprochen, seine Eltern an Thanksgiving zu besuchen, also lieh er sich ein Pferd und machte sich in aller Frühe auf den Weg, um am Vormittag in Taylorsville zu sein. Er bedauerte, dass er diesen Feiertag nicht mit Kathryn und ihren Freunden verbringen konnte, welche ihn nämlich dazu eingeladen hatten.

Er blickte dem Besuch bei seiner Familie ohne Freude entgegen. Sein neues Leben in Millers Landing gefiel James und er war froh, dem unterdrückerischen, giftigen Einfluss seines Vaters dadurch entkommen zu sein.

Als seine Mutter ihm die Tür öffnete, erschrak James ein wenig, denn die kleine Frau schien in seiner Abwesenheit noch winziger geworden zu sein. Überdies war ihre Haut bleich und gespannt und in ihrem cremefarbenen Kleid hob sie sich kaum noch von den Wänden des Flurs im Hintergrund ab.

„Als wollte sie sich vollends in Bedeutungslosigkeit auflösen!" dachte James schockiert, versuchte aber, sich jedoch nichts anzumerken zu lassen. Er beugte sich zu seiner Mutter hinunter und umarmte und küsste sie zur Begrüßung.

Sein Vater hielt es natürlich nicht für nötig, zu seinem Empfang an die Tür zu kommen. Nein, der Bürgermeister hielt Hof in seinem Arbeitszimmer und James musste zu IHM kommen! Dort saß William Chester in seinem beeindruckenden Lehnstuhl hinter dem prächtigen alten Eichenschreibtisch. Ohne aufzustehen streckte er seinem Sohn zum Gruß die Hand hin und deutete auf einen unbequemen Holzstuhl gegenüber:

„Willkommen zuhause Jimmy. Setz' dich! " forderte er:

„Hallo Vater!" antwortete James ein wenig reserviert.

William Chester holte eine Flasche Whiskey und zwei Gläser aus seiner Schreibtischschublade und schenkte sich selbst ein. Als er auch das zweite Glas füllen wollte, bedeckte James es mit seiner Hand und erklärte:

„Danke Vater, aber ich denke, für mich ist es noch etwas zu früh!"

Sein Vater schob seine Hand beiseite und erklärte:

„Unsinn! Heute ist ein Feiertag und ich will mit meinem Sohn anstoßen."

Der Vater schob dem Sohn das Glas hin und erhob sein eigenes, um ihm zuzuprosten. Widerwillig nahm James sein Glas und trank. Schon von dem Geruch wurde ihm übel und in seinem Inneren brannte sich der Alkohol den Weg in seinen Magen. Als er das Glas geleert hatte, schüttelte sich James.

Die Leute von Millers LandingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt