23 Sechs Damen aus Boston

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In dieser Nacht hatte James sich besser auf seine Observation vorbereitet, indem er noch eine weitere Schicht Kleidung angezogen und etwas zu Essen mitgebracht hatte. Nun saßen er und Tiny in einer Senke auf der Lauer und ein merkwürdiges, unbehagliches Schweigen hatte sich zwischen den beiden breit gemacht. Noch nie hatten die beiden Männer so viel Zeit allein miteinander verbracht. Und zu seiner Verwunderung stellte James fest, dass Tiny ihm gegenüber offenbar genauso unsicher war, wie umgekehrt.

Er fragte sich, ob ihr Schweigen wohl in dem Gespräch über Joe begründet lag, welches die beiden am Nachmittag geführt hatten. James war immer noch erstaunt über den eigenen Mut, derart klare Worte gefunden zu haben.

Einmal mehr spürte er, wie sehr er den großen, manchmal einschüchternden Mann bewunderte und sich seinen Respekt wünschte. Obwohl Tiny gar nicht so viel älter war, stellte dieser in gewisser Weise eine Art Vaterfigur für ihn dar und zwar im besten Sinne des Wortes.

Mittlerweile war es stockfinstere Nacht und sie hatten nun bereits so lange geschwiegen, dass James fast vermutete, dass Tiny eingeschlafen sei. Als dieser dann aber urplötzlich zu sprechen begann, zuckte er erschrocken zusammen:

„Ich habe keine Übung darin, weißt du?" erklärte der Ältere und klang irgendwie kläglich dabei.

„Hmm?" machte James, der natürlich keine Ahnung hatte, wovon Tiny sprach.

„Na ja, Liebe... Zusammensein...? Darin bin ich ein echter Anfänger!" fuhr der Ältere fort. „Am Anfang war es leicht für mich gewesen; Joe war körperlich und seelisch verletzt und ich habe ihn gepflegt und beschützt. So etwas kann ich, verstehst du? Aber nun ist Joe so erwachsen, selbstbewusst und trifft seine eigenen Entscheidungen. Ich weiß gar nicht, welche Rolle ich dabei noch spiele?"

James fürchtete sich davor, etwas zu sagen, hatte Angst es könnte genau das Falsche sein, also schwieg er vorerst und hörte weiter zu:

„Ich war einfach nicht gefasst darauf, was es bedeutet, jemanden so sehr zu lieben. Plötzlich hat man so viel zu verlieren." sagte Tiny nachdenklich und fuhr dann fort: „Komisch, eigentlich hätte ich es wissen müssen, nach Kathryn und Elizabeth? Aber ich schätze, etwas selbst zu empfinden ist etwas anderes, als es nur von außen zu betrachten."

James überwand seine Unsicherheit und erwiderte:

„Über all' diese Dinge solltest du mit Joe sprechen. Er muss das wissen, damit er dich verstehen kann!"

Tiny schluckte schwer. SO sollte er sich Joe zeigen? Er sollte ihn wissen lassen, wie schwach, ängstlich und erbärmlich er im Grunde war?

Irgendwie hatte James seine Gedanken erraten:

„Lass' ihn doch sehen, wer du wirklich bist! Er wird dich dennoch lieben! Mehr noch, vermute ich!"

James konnte hören, wie Tiny sich die Haare raufte, doch dann tat er etwas völlig Unerwartetes und umarmte er James aus heiterem Himmel.

Zum Glück war es dunkel, denn James grinste, wie ein selbstzufriedener Idiot.

Im Anschluss an diese eigenartige Szene fielen die beiden Männer wieder in Schweigen, doch diesmal fühlte es sich vertraut und angenehm an.

Worte waren nicht mehr nötig.

Gegen fünf Uhr am Morgen wiederholte sich das, was bereits am Vortag geschehen war: Carmichael beendete seine Nachtruhe, lief hinüber zum roten Haus um dort ausgiebig die Fassade anzustarren und machte dann auf den Weg zur Arbeit.

James machte es sich nun jede Nacht zur Aufgabe, Wache an der Hütte von Bob Carmichael zu halten. Dabei hatte er stets Unterstützung, meist von Tiny oder Joe und vor zwei Nächten war gar Melody mit ihm gegangen, weil sie nicht einsah, warum sie als Frau nicht dazu imstande sein sollte ihm Rückendeckung zu geben, hatte sie erklärt. Sie hätte immerhin eine Rechnung mit dem Kerl zu begleichen, brachte sie vor und weil James dagegen nichts zu sagen wusste, ließ er es mit leicht unbehaglichem Gefühl tatsächlich zu, dass sie ihn begleitete.

Die Leute von Millers LandingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt