Kapitel 1 - Schmerz

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Aaron

„Es tut mir sehr leid. Wenn es Sie tröstet: Sie hatten keine Schmerzen und waren beim Aufprall sofort tot. Es ging alles ganz schnell." Ein ziemlich schwacher Trost, aber ich verspüre tatsächlich so etwas wie Erleichterung bei dem Gedanken, dass meine Eltern nicht leiden mussten. Trotzdem fällt es mir gerade schwer, die Tatsache, dass meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, hinzunehmen. Der Polizeibeamte redet weiterhin beruhigend auf mich ein, aber ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt. Tausend Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Komischerweise fühlt es sich aber wie eine riesige Leere an. Verwirrend. Ich warte darauf, dass der Schmerz einsetzt. Dass ich anfange zu weinen und keine Luft mehr bekomme, aber es kommt nicht. Ich bin wie taub. In Watte gepackt. Geräusche und Stimmen dringen nur gedämpft zu mir durch. Ich muss hier raus. Meine eigenen vier Wände erdrücken mich.

„Bitte entschuldigen Sie mich, Officer. Ich brauche frische Luft." Ich dränge mich an dem Polizisten vorbei, der in meiner Tür steht. Er sieht mich verständnisvoll an, aber ich will sein Verständnis nicht. Ich lasse die Tür auf und sprinte die Treppe runter und nach draußen. Er wird die Tür schon schließen, aber es ist mir eigentlich auch egal. Ich überlege, wo ich hin soll, aber mir fällt nichts ein. Mit schnellen Schritten gehe ich zu meinem Auto, steige ein und fahre los. Alles besser als stillstehen. Ich rufe Siri auf meinem iPhone auf und befehle ihr, meinen besten Freund anzurufen. Kayden weiß was zu tun ist. Mit Sicherheit ist seine Frau Carly bei ihm, was mir ganz recht wäre. Sie ist meine beste Freundin und schafft es immer, mich aufzuheitern. Ich höre es klingeln über meine Freisprecheinrichtung, aber niemand hebt ab.

„Hi. Wie du gemerkt hast, bin ich gerade nicht erreichbar. Quatsch mir was auf die Mailbox. Vielleicht rufe ich zurück." Mit einem Schrei werfe ich mein iPhone quer durch die Fahrerkabine. Ich fahre an dem Haus vorbei, in dem Kayden und Carly wohnen, aber Kaydens Auto steht nicht da, wo es sonst steht. Wohin jetzt? Denk nach, verdammt! Für weitere zehn Minuten fahre ich ziellos durch die Stadt. Ich könnte zu einem meiner Teamkollegen vom Footballteam. Vielleicht zu Dwight oder Olli, aber ehrlich gesagt, will ich das nicht. Ich liebe die Jungs wie Brüder, aber sie stehen mir nicht so nahe wie Kayden und es fühlt sich falsch an zu einem von ihnen zu fahren. Nach der Sache mit Carly und Luke sind alle sowieso noch etwas durcheinander. Das kann ich gerade nicht auch noch gebrauchen. Carly wurde vor rund neun Monaten von unserem Ersatzquarterback Luke entführt, weil er auf krankhafte Art in sie verliebt war, aber glücklicherweise konnte Kayden sie retten.

Als ich am Rand der Stadt ankomme, sehe ich das große Schild, das den Nationalpark etwas außerhalb der Stadt anpreist. Ohne weiter nachzudenken, biege ich ab und befinde mich kurz darauf auf dem Parkplatz des Parks. Es ist relativ wenig los, da das Wetter heute nicht sonderlich gut ist, was mir sehr gelegen kommt. Viele Menschen könnte ich momentan wirklich nicht ertragen. Ich steige aus und laufe umher, ohne ein bestimmte Ziel vor Augen zu haben. Ich war schon ein- oder zweimal hier und der Park hat eine großartige Flora und Fauna, aber deswegen bin ich heute nicht hier. Ich will Ablenkung. Ich will... ich weiß nicht, was ich will. Alles, nur nicht an meine toten Eltern denken. Meine Schritte werden schneller und nach einigen Minuten komme ich an einem Felsvorsprung an, der mit einem Holzzaun vom Abgrund abgetrennt ist. Ich muss schon ziemlich weit gelaufen sein, denn es ist niemand hier. Auch wenn ich mich umdrehe ist keine Menschenseele zu sehen. Das ist mir nur recht. Ich setze mich auf eine Bank kurz vor dem braunen Zaun und überblicke die Hügel, Bäume und Schluchten des Nationalparks. Es ist ruhig und friedlich hier. Die Sonne steht schon ziemlich tief und es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis sie untergeht. Das sind alles Dinge, die mir unter normalen Umständen gefallen hätten, aber heute ist alles anders.

Meine Eltern sind tot.

Beide tot.

Einfach so.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr hebt sich der Schleier des Taubheitsgefühls, der mich bis jetzt begleitet hat. Ich sehe nie wieder Moms Lächeln. Nie wieder. Mein Körper fängt an zu zittern und da ist er endlich: Der Schmerz, auf den ich gewartet habe. Er prasselt wie eiskalter Regen auf mich nieder. Kurz darauf laufen mir auch die ersten Tränen über meine Wangen und ein Schluchzen kann ich nicht länger unterdrücken.

Sie sind beide weg. Für immer.

Ich schlinge meine Arme um meinem Körper und versuche so dem Zittern Einhalt zu gebieten, aber es wird nur noch schlimmer. Mit meinen Ellenbogen stützte ich mich auf meinen Knien ab, lege mein Gesicht in meine Hände und weine jetzt hemmungslos. Es ist mir egal, wenn mich jemand so findet. Es ist mir alles egal. Ich muss unbedingt meine Schwester Emily anrufen, aber ich brauche zuerst Zeit für mich. Sie ist vor einigen Monaten nach England gezogen. Bis sie hier ist oder die Neuigkeiten anderweitig erfährt, vergeht sicherlich noch etwas Zeit. Ansonsten habe ich niemanden hier. Keine Großeltern mehr. Meine Mutter hat eine Schwester, aber die lebt irgendwo in Kolumbien oder Brasilien. Seit einem großen Streit vor vielen Jahren hat sie mit niemandem aus meiner Familie mehr gesprochen. Ich bin also wirklich allein. Ich werde später Em anrufen, aber ich weiß noch nicht, wie ich das alles schaffen soll. Ich bin zwar der kleine Bruder, aber ich will sie trotzdem schützen und ihr so viel Schmerz wie möglich ersparen. Meine Gedanken driften ab, als ich eine Stimme hinter mir höre.

„Aaron?"

AaronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt