Kapitel 26 - Emery

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Aaron

Und wieder stehe ich in dem Nationalpark an dem Aussichtspunkt, an dem ich vor wenigen Wochen gemeinsam mit Ally stand. Dort, wo unsere kleine Geschichte anfing und jetzt ist sie schon wieder vorbei. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so bescheuert gefühlt. Was habe ich nur getan?

Mein Handy in meiner Hosentasche klingelt. Ich hole es heraus und sehe, dass es Kayden ist. Ohne abzuheben, stecke ich es zurück in meine Tasche und ignoriere es, als es noch zwei mal klingelt. Er will mir sagen, wie bescheuert ich bin. Als ob ich das nicht selber wüsste. Vor mir auf dem Boden liegt ein Stein, den ich aufhebe und voller Wut schreiend in den Abgrund vor mir werfe.

„Woah, woah. Was hat der Stein dir getan?" Ich drehe mich ruckartig um und schaue direkt in die braunen Augen eines Mädchens. Sie hat hellbraunes, schulterlanges, glattes Haar und ich schätze sie auf 16 oder 17. Sie steht vor mir und sieht mich mit großen Augen an.

„Tut mir Leid. Blöder Tag", sage ich und will mich gerade umdrehen, um zu gehen, als sie mich am Arm fest hält und ich stehen bleibe. Ich schaue zu ihr herunter. Ihre Statur und ihr Aussehen erinnern mich an Ally. Sie sind etwa gleich groß, die Haare sind bis auf die Farbe fast identisch.

„Erzähl mir, was passiert ist!" Und sie ist genauso direkt wie Ally. Sie lächelt und ich bemerke eine große Zahnlücken vorne, die ihrem Aussehen etwas verspieltes und unschuldiges gibt.

„Wie alt bist du?", frage ich sie und lehne mich gegen die Metallstange, die die Besuchsplattform von dem Abgrund hinter mir abtrennt.

„16", antwortet sie und lächelt breit. Ich grinse zurück. Ihr Lächeln ist ansteckend.

„Warum bist du alleine hier oben und sprichst fremde Männer an?" Ihre Wangen werden leicht rot und ihr Lächeln verschwindet. Oh oh. Hab ich was Falsches gesagt? 

„Ich hatte Streit mit meinem Dad. Er... versteht nicht." Sie stellt sich neben mich und lehnt sich ebenfalls gegen die Stange.

„Was versteht er nicht?" Ihre Augen füllen sich mit Tränen und mich überkommt ein Gefühl der Hilfslosigkeit. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Carly oder Ally würde ich in den Arm nehmen, aber diese Mädchen kenne ich nicht und sie ist noch so jung.

„Ich... hab mich verliebt." Das Problem kenne ich nur zu gut.

„Naja, ich schätze, dein Vater will dich nur beschützen. Du warst sicherlich jahrelang seine Prinzessin und jetzt ist da dieser Junge." Puh, was, wenn ich eine Tochter kriege und sie in ihren Teenagerjahren einen Jungen anschleppt? Wenn Ally mich jetzt überhaupt noch an dem Leben des Kindes teilhaben lässt. Ich Vollidiot!

„Es ist ein Mädchen."

„Was?"

„Ich habe mich in ein Mädchen verliebt."

Oh. Was sagt man dazu? Ich habe kein Problem damit. Ally war schließlich vorher auch mit einer Frau zusammen. Liebe ist Liebe. Aber ich kann dem Mädchen schlecht sagen, dass ihr Vater ein Arschloch ist. Sie scheint ihn zu lieben und ihm nahe zu stehen.

„Gib ihm Zeit..." Ich durchforste mein Hirn nach ihrem Namen, aber ich glaube sie hat ihn mir nie genannt.

„Emery."

„Emery..." Ich teste den Namen auf meiner Zunge. Er gefällt mir.

„Ja, mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben," sagt sie. Plötzlich hebt sie den Kopf und ihr breites Lächeln ist zurück. „Jetzt zu dir. Warum hast du Mr. Stein so kaltblütig in den Abgrund geworfen?" Mr. Stein? Ich lache und schaue sie an. Kann ich ihr das erzählen? Einem fremden Mädchen. Sie ist erst 16. Aber da sollte man die Geschichte mit den Bienchen und Blümchen schon kennen oder? Herrje, ich hatte mein erstes Mal mit 15.

„Es gibt da ein Mädchen, dass ich sehr mag. Wirklich sehr", beginne ich und Emery scheint die Ohren zu spitzen.

„Wie sehr?", unterbricht sie mich.

„Ich liebe sie." Und diese Aussage trifft mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ich wusste, dass ich starke Gefühle für Ally habe,  aber die Worte fühlen sich richtig an. Ich liebe Ally!

„Es war einfach mehr zwischen uns und ich habe heute erfahren, dass sie schwanger ist. Von mir." Ich hole tief Luft und atme es in einem Schwall aus, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Emery starrt mich mit großen Augen an.

„Und sie will das Baby nicht?", fragt sie scheinbar entsetzt.

„Ich weiß es nicht."

„Du weißt es nicht? Hast du sie denn nicht gefragt?"

Ich schüttele den Kopf und Emerys Augen werden noch größer.

„Hast du überhaupt schon mit ihr darüber gesprochen?"

Wieder schüttele ich beschämt meinen Kopf und mein blonde Haar fällt mir in die Augen. Als ich aufschaue, schüttelt Emery ihren Kopf.

„Also lass mich mal versuchen zusammenzufassen, ob ich das richtig verstanden habe. Du liebst ein Mädchen, hast sie geschwängert und davon heute erfahren und statt mit ihr zu reden, stehst du hier im Nationalpark, wirfst Steine in den Abgrund und redest mit mir statt mit ihr?"

Selbst eine 16-jährige ist klüger als ich. Dieses Moment gehört definitiv nicht zu meinen Glanzmomenten. Vollidiot! Ich nicke Emery zu und sie haut sich mit der flachen Hand geräuschvoll gegen die Stirn.

„Meine Güte! Lass dir ein paar Eier wachsen...!" Nun sieht sie mich fragend an, weil sie meinen Namen nicht weiß und ich muss lachen. Ich weiß nicht genau, wie sie es schafft, aber sie scheint immer die richtigen Sachen zu sagen. Sachen, die ich einer zierlichen 16-jährigen nicht zugetraut hätte.

„Aaron", sage ich und sie lächelt. Wir beide verstehen uns gut und ich hoffe, dass sie die Probleme mit ihrem Vater überwinden kann. Sie ist ein tolles Mädchen.

„Geh zu ihr!", sagt sie nun mit sanfteren Stimme. „Ich wette, sie braucht dich jetzt."

Sie hat recht. Kayden hatte recht. Alle hatten sie recht und ich war mal wieder zur blöd klar zu sehen. Ich will Ally in meinem Leben. Ich will das Baby! Ich will uns!

„Gib mir dein Handy!"

„Was?"

„Bitte gib mir dein Handy kurz!" Emery schaut mich zweifelhaft an, reicht mir dann aber ihr Handy, welches in ihrer vorderen Jeanstasche steckte. Ich entsperre es und tippe meine Nummer in ihren Kontakten ein, ehe ich es ihr wieder zurückgebe.

„Du hast mir sehr geholfen, Emery. Solltest du irgendwann mal Hilfe brauchen, denk nicht lange nach und ruf mich an, okay?" Emery steckt ihr Handy wieder zurück in ihre Tasche und nickt.

„Das werde ich."

Ich drücke sie feste an mich.

„Soll ich dich nach Hause fahren?" Sie schüttelt ihr braunes Haar.

„Nein, danke. Ich bleibe noch einen Moment."

Ich verabschiede mich von ihr und renne zu meinem Auto. Ich muss zu Ally. Muss mich bei ihr entschuldigen. Ihr sagen, dass ich sie liebe. Dass ich mich auf unser Baby freue. Dass ich ab jetzt immer für sie da sein werde.

Doch als ich heim komme, ist sie nicht da. Nichts ist mehr da. Ihr Zimmer ist komplett leer. Wie ausgestorben. Als hätte sie niemals hier gelebt. All ihre persönlichen Dinge sind weg. Genau wie Ally.

AaronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt