Das Schiff der Träume

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[Anmerkung: Ich schreibe die Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven. Wenn sich diese ändert, wird das durch ein ⚓ gekennzeichnet.]

Als man Rose DeWitt Bukater die Tür öffnete und die Hand reichte, sodass sie aus dem Wagen steigen konnte, blickte sie scheinbar unbeeindruckt auf das prächtige Schiff, welches sich vor ihr erstreckte: die RMS Titanic.
»Ich verstehe gar nicht, was die alle für ein Gerede machen. Sie sieht nicht viel größer aus als die Mauretania«, kam es nur mürrisch von ihr.
Weder ihre Mutter, noch ihr Verlobter verstanden woher ihre schlechte Laune herrührte. Unzählige Menschen hatten sich an diesem Vormittag am Hafen von Southampton versammelt um sich von den Passagieren zu verabschieden. Jeder der Anwesenden lächelte oder staunte beim Anblick des wohl größten Schiffes der Welt, die kurz vor ihrer Jungfernfahrt stand. Selbst das oftmals launische Aprilwetter hatte sich für diesen Tag erbarmt und mit einem klaren Himmel und hellem Sonnenschein für ein passendes Ambiente gesorgt. Alles fügte sich perfekt zusammen, bis auf Rose, die diesen Tag nicht so recht genießen konnte.
»Du magst vielleicht über andere Dinge spotten, Rose, aber nicht über die Titanic. Sie ist über einhundert Fuß länger als die Mauretania und auch sehr viel luxuriöser.«
Zwar hörte Rose die Worte ihres Verlobten, doch reagierte sie kaum darauf. Natürlich wusste sie, dass die Titanic größer war, doch irgendwie musste sie ihrem Frust Raum geben. Als sie sich umdrehte und dem Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen musste gegenüber stand, spürte sie wie so oft wie sich ein beklommenes Gefühl still und leise wie ein Gift in ihr ausbreitete. Die meisten Frauen würden Cal Hockley als attraktiven Mann beschreiben und damit hatten sie wohl Recht. Rein optisch hätte selbst Rose nichts an ihm auszusetzen gehabt: die große, stattliche Statur ließ ihn in seinem dunkelgrauen Anzug elegant wirken. Sein kurzes Haar trug er gerne nach hinten gekämmt, auch wenn das seiner Gewohnheit, sich durch das Haar zu fahren nicht immer zu Gute kam. Oftmals hatte sein Haar dadurch eine eher lockere Erscheinung, was Rose besser gefiel, ihn allerdings sehr störte. Cals eher markante Kieferpartie war durchzogen von einem kaum zu sehenden Bartschatten, der nie mehr wurde, da in ihren Kreisen ein Vollbart selten, beinahe gar nicht, gesehen wurde. Mit seinen zweiunddreißig Jahren war er fünfzehn Jahre älter als sie selbst, was sie nicht wirklich störte.
Ja rein optisch gab es an ihm wenig auszusetzen, doch Rose hatte schnell gemerkt, dass sie mit diesem Mann nicht glücklich werden würde.
Sie ersparte sich den bitteren Kommentar, der bereits auf ihrer Zunge lag und wandte sich wieder dem Schiff zu. Um ihr Gepäck wurde sich bereits gekümmert, da sie der ersten Klasse angehörten, gab es kaum etwas, das sie selbst zu tun hatte, außer sich wie die wohlerzogene Dame zu benehmen, die sie nie sein wollte.

Gerne hätte sie gesehen, wie das Schiff in See stach und wie die Leute am Hafen jubelnd winkten, doch dafür blieb ihr keine Zeit. Es kam ihr so vor, als wäre ihre Zeit auf diesem Schiff bereits bis ins Kleinste organisiert worden und Selbiges galt auch für ihre Zukunft. Sie sah ihr Leben vor sich, als läge es bereits hinter ihr und sie hatte keine Wahl dem zu entkommen. Immer dieselbe engstirnige Gesellschaft mit ihren Gesprächen über die Wirtschaft und wie man aus viel Geld noch mehr machen konnte. Es war als würde sie sich im Kreis drehen ohne Aussicht auf einem Ausweg und ohne Chance diesem elenden Trott zu entkommen.
Die schwermütigen Gedanken wurde sie auch dann nicht los, als man sie zu ihrer Suite brachte. Während sich ihr persönlicher Aufenthaltsbereich über mehrere Zimmer erstreckte, mussten sich die Passagiere der dritten Klasse eine kleine Kajüte mit vier oder manchmal auch sechs anderen teilen. Rose kam jedoch nicht dazu die makellose und wunderschöne Ausstattung des Raumes zu bewundern, da sie bereits zum Essen erwartet wurde.
Da Cal ein überaus wohlhabender und einflussreicher Geschäftsmann war, war es für sie kaum verwunderlich, dass sie gleich an einem Tisch mit Joseph Ismay, dem Direktor der White Star Line, welcher an der Planung und dem Bau der Titanic beteiligt war, und dem Schiffskonstrukteur Thomas Andrews sitzen würde. Sie hoffte sehr darauf, dass die Gespräche eine andere Richtung nehmen würden wie sonst, innerlich blieb sie allerdings realistisch.
Sicherheitshalber warf sie einen Blick in den Spiegel, um zu überprüfen ob ihr kupferrotes langes Haar noch richtig saß, oder ob sie noch etwas Rouge auf ihre von Natur aus eher blasse Haut auftragen musste. Mutter würde es ihr ewig nachreden, wenn sie ihrem Maßstab der Perfektion nicht gerecht werden würde.
»Rose liebes, bist du soweit?«, hörte sie ihre Mutter bereits fragen, als sie eintrat.
Jeder würde sofort erkennen, dass Ruth DeWitt Bukater ihre Mutter war. Ihr Haar war von dergleichen Farbe und auch sie hatte diese noble Blässe, wie sie es gern nannte.
Mit kritischem Blick musterte sie ihre Tochter, stellte sich hinter ihr und richtete das Kleid etwas zurecht. »Es ist sehr wichtig, dass du dich benimmst Rose. Cal hat der Ehe zugestimmt und ich möchte nicht, dass er sie durch dein trotziges Verhalten wieder auflöst.«
»Ich weiß Mutter«, kam es monoton von ihr.
Seit ihr Vater gestorben ist, hatten sie und ihre Mutter finanzielle Probleme. Sie gehörten der angesehenen und wohlhabenden Gesellschaft in Philadelphia an und Ruth lag viel daran diese Stellung auch zu halten. Ihr Vater hinterließ ihnen einen Berg an Schulden, fein versteckt hinter der Maske ihres hoch geschätzten Namens. Der einfachste Weg ihren finanziellen Status zu retten war durch eine Heirat und Cal hatte sich bereit erklärt die rettende Hand zu reichen. Cal hatte schon früher versucht ihr Avancen zu machen, mit wenig Erfolg. Jetzt hingegen blieb Rose keine andere Wahl als sich dem Druck ihrer Mutter zu beugen, wenn sie auch gelegentlich auf verbalem Weg ihre Unzufriedenheit deutlich machte, was von ihrer Mutter gern als „trotziges Verhalten" bezeichnet wurde.
»Ich weiß, dass du es weißt. Aus irgendeinem Grund reicht dir das aber noch nicht aus um dich angemessen zu benehmen. Lass dir nur gesagt sein, dass es unser Ruin wäre, wenn sich Cal von uns abwendet.«
Ihre Mutter betonte jedes Wort, um ja deutlich zu machen wie ernst es ihr war. Schließlich ließ sie von ihr ab, damit sie beide den Raum verlassen und sich der gehobenen Gesellschaft zum Essen anschließen konnten.

Behind the Veil (wlw)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt