Kapitel 6

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"Und du willst das wirklich tun?? Du willst einfach so alles aufgeben? Alles, was du bisher erreicht hast? Man Liv, du hast noch nicht mal deinen Abschluss in der Tasche und willst jetzt einfach aussteigen? Wo willst du überhaupt hin? Und was genau hast du vor, dort zu tun?", will Solea genauso wenig begeistert wie die beiden anderen wissen.
"Ich...ich hab keine Ahnung! Ich weiß nur, dass ich es bei meinen Eltern einfach nicht mehr aushalte, ok?", antworte ich und kaue nervös meiner Unterlippe herum.

"Liv, damit ist nicht zu spaßen! Wie willst du denn irgendwo im nirgendwo zurecht kommen?", Tayra ist genauso besorgt wie Xana und Solea.
"Wo willst du hingehen?", fragt Solea nochmal.
"Ich will raus aus der Stadt fahren, ich weiß noch nicht genau wohin, aber das werd ich ja dann sehen!", meine ich nachdenklich.
"Wann...wann wirst du gehen?", möchte Xana mit traurigem Blick wissen. Die anderen beiden sehen mich mit genau dem gleichen Blick an.
"Ich wollte gehen, nachdem ich Fynn noch einmal gesehen hab. Fragt mich nicht wieso, ich würde ihn einfach gerne nochmal sehen nach diesem Brief, den er mir geschrieben hat...", beantworte ich ihre Frage.
"Aber er war bis jetzt noch nicht da!", vollendete Tayra meinen Satz. Ich nicke zur Bestätigung und setze noch hinzu: "Wir haben jetzt noch eine Woche Praktikum und diese Zeit gebe ich ihm noch, wenn er innerhalb der nächsten Tage also nicht auftaucht, werde ich am Freitag verschwinden und, wenn er auftaucht, werde ich dann genau an dem Tag verschwinden, an dem ich ihn gesehen hab. Ich werde dann noch einmal persönlich bei euch vorbeikommen, denn ich will euch keine Nachricht darüber schreiben. Also werdet ihr mich auf jeden Fall noch sehen, bevor ich gehe!"
Meine Freundinnen können nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten und umarmen mich alle gleichzeitig.
Ich erwidere die Umarmung und nach einer Weile lösen wir uns wieder von einander.
"Hey Leute, es bedeutet ja nicht Abschied für immer! Ich werde euch auf jeden Fall besuchen kommen und werde Kontakt mit euch halten. Ich werde euch nicht vergessen und ich hoffe ihr werdet mich auch nicht vergessen!", versuche ich sie ein wenig aufzumuntern.
"Werden wir nicht! Auf keinen Fall! Versprochen!", versichert Solea mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

"Hey Xana, Liv! Könnt ihr bitte mal die da drüben übernehmen? Ich kann nicht alles alleine machen!", bittet Ella uns. Mit einem 'Ja natürlich!' und einem entschuldigenden  Blick zu Tayra und Solea gehen wir unserer Arbeit nach.

Heute ist Samstag. Eine Woche Praktikum ist nun schon vorbei. Seit Mittwoch habe ich kein einziges Wort mehr mit meiner Mutter gesprochen, ich durfte aber Donnerstag und Freitag wieder mit meinem Vater zur Arbeit fahren.

An beiden Tagen habe ich gehofft Fynn zu sehen, da er ja eventuell noch so eine Aktion wie mit dem Zettel bringen könnte, doch er ist nicht aufgetaucht.
Weder bei der medizinischen Untersuchung, noch beim Mittagessen.
Vermutlich ist er von dem Kollegen meines Vaters untersucht worden und hat wohl früher oder später als wir zu Mittag gegessen.
Auch auf den Fluren habe ich ihn nie gesehen. Langsam denke ich, er geht mir absichtlich aus dem Weg, doch welchen Grund könnte er dafür haben?
Hat er es sich jetzt doch anders überlegt und bereut die Aktion mit dem Zettel?
Ich habe keine Ahnung. Irgendwie macht es mich traurig und es verletzt mich auch ein wenig, dass jetzt nichts mehr kommt nach dem Zettel.
Auch wenn mein Gehirn meinem Herzen klar machen möchte, dass das eh nur ein Scherz von ihm gewesen ist und ich mich nicht in einen Verbrecher verlieben sollte, will mein Herz das einfach nicht verstehen.

Seufzend mixe ich der Frau den Cocktail, den sie bestellt hat, und schütte dem Mann, der schon ein wenig zu viel Alkohol getrunken hat, Wasser in sein Glas.
Lallend dankt er mir und zwinkert mir noch einmal zu, bevor er an seinem Glas Wasser nippt und ich wieder zurück zu den anderen gehe.
Ella hält mich jedoch auf und zieht mich ein wenig zurück vom Tresen. "Also, du willst abhauen?", beginnt sie mit gedämpfter Stimme. Ich nicke und sie fährt fort, "Ich kann dich verstehen,dass du von deinen Eltern weg willst, aber hast du es dir wirklich genau überlegt?" Erneut nicke ich. "Na gut, also -wie du weißt- besitze ich nicht nur diese Bar, sondern auch andere in ein paar Bundesstaaten: Georgia, Kentucky, Texas, Minnesota und Ohio. Du kannst gerne dorthin fahren und dort in meiner Bar arbeiten. Ruf mich nur an und sag mir, wo du bist, ich regele das dann.
Wenn du in der ersten Zeit mal keinen Schlafplatz hast, dann darfst du gerne in der Bar übernachten. Ich sage dann jemandem Bescheid, der dir einen Schlüssel geben soll", meint sie hilfsbereit.
"Dankeschön, das ist echt nett von dir, Ella!", bedanke ich mich und erwidere ihr aufmunterndes Lächeln.
"Brauchst du sonst noch irgendwas?", will Xanas Mutter wissen.
"Nein sonst nichts!", antworte ich dankbar, dass sie sich für mein Wohlbefinden interessiert. Sie ist mir schon immer mehr "Mutter" gewesen als meine eigene.

"Ach und eins noch: Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin, wenn du etwas brauchst! Du musst wissen, dass ich nicht immer so anständig war, wie ich jetzt bin. Ich habe einige Kontakte, die vielleicht nicht ganz so sauber sind, wie sie sein sollten. Du kennst meine Nummer, falls du etwas von dieser Art benötigst", erklärt sie mir fürsorglich.
Ich verstehe, was sie meint, und bedanke mich nochmals für ihre Hilfe.

Meine Freundinnen und ich verbringen noch den ganzen Abend in der Bar und haben noch ein bisschen Spaß zusammen, da wir ja bald nicht mehr zusammen sein werden.

                                  ***

Den Sonntag verbringe ich alleine zu Hause, denn meine Eltern sind zusammen auf einen Tagesausflug gefahren, von dem ich wiedermal nichts gewusst habe.
Sie tun sowas ständig. Vom einen auf den anderen Tag sind sie weg und das einzige, was sie mir hinterlassen ist ein kleiner Zettel auf dem mit gekrakelter Schrift steht, dass sie weg sind.
Manchmal steht sogar noch drauf, wie lange sie weg sind, aber oft auch nicht und dann musste ich mich immer überraschen lassen, wann sie wieder zurückkommen.
Das ist ein weiterer Grund, warum sie mich so aufregen. Ich habe mir schon oft vorgestellt, was ich tun würde, wenn sie einmal für immer verschwinden würden.
Vorher habe ich mir nicht vorstellen können, einfach so vom einen auf den anderen Tag ganz alleine ohne meine Eltern mein Leben zu meistern und alles zu managen.
Jetzt jedoch kann ich mur ganz genau vorstellen, wie ich das mache, und ich wäre eigentlich sogar froh, wenn sie nie wieder kommen würden...

Ich vertreibe mir die Zeit im Pool und lege mich dann auf eine Liege, um mich zu sonnen. Stundenlang liege ich einfach nur da und tue nichts. Natürlich habe ich mich gut eingecremt, damit ich keinen Sonnenbrand bekomme.
Irgendwann lege ich mein Buch weg und meine Gedanken schweifen wieder zu Fynn. Ich kann nichts dagegen tun, er taucht einfach immer wieder in meinen Gedanken auf und mein Herz beginnt dann immer schneller zu schlagen...
Ich hasse mein Herz dafür, dass es sich so leicht in so einen Fremden und auch noch in einen Verbrecher verguckt hat...
Ich glaube zwar nicht, dass ich ihn liebe, aber so eine kleine Schwärmerei ist das schon und das nervt mich. Meine Naivität macht mich wütend.
Schnaubend versuche ich mich mit Musik abzulenken. Ich drehe sie voll auf, da es mir egal ist, was die Nachbarn davon halten.
'Outside' von Staind dröhnt aus den Lautsprechern meiner Bluetooth-Musikbox.
Kurz schließe ich die Augen und genieße die Musik, dann stehe ich auf und springe kopfüber in den angenehm kühlen Pool.

Prison-Limitless Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt