Plagen

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Manuel hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und schlief. Ich starrte währenddessen aus dem Fenster und versuchte meine Gedanken zu kontrollieren. Ich wollte sie nicht wieder in die Richtung lenken, wo mir die Erinnerungen hochkamen. Es ging meistens von alleine. Automatisch kamen die Geräusche und Bilder in meinen Kopf und brachten mich aus dem Konzept. Es war das schlimmste an allem. Der psychische Druck. Die Bilder. Es war noch schlimmer als mein Aussehen. Es war das, was mir am meisten Angst machte.
Ich sah auf Manuels schlafende Gestalt. Ob er auch diese Geräusche hörte? Ob er auch ein Trauma hatte, es aber nur nicht sagte, weil er mich nicht beunruhigen wollte? Ich strich ihm über seine Hand. Er sprach so selten darüber, wie es ihm ging. Er opferte sich so für mich, dass er sich und sein eigenes Wohl zurück stellte.

Meine Gedanken wurden unterbrochen. Die Tür meines Zimmers ging auf und ein Junge, vielleicht etwas Jünger als ich, kam herein. Sein Arm war in einen blauem Gips gesteckt. Erschrocken blieb er stehen, als er mich hier liegen sah. "Hallo", begrüßte ich den Jungen lächelnd. Er sah mir direkt ins Gesicht, piepste dann ebenso ein "Hallo" und krabbelte anschließend in sein Bett. Er schaute mich nicht nochmal an. Den ganzen Tag über, nicht mal beim Essen, als er am Fenster, am Tisch saß und eigentlich in mein Gesicht sehen musste, wenn er geradeaus sah. Er traute sich nicht. Auch Manuel warf immer wieder einen Misstrauischen blick zu ihm. Vermutlich verstand er genauso wenig wie ich, wieso er nicht sprach und uns komplett ignorierte.

(...)

Regen prasselte laut gegen das große Fenster. Draußen war es dunkel. Nur die Lichter des Krankenhauses und der Laternen im Park waren zu sehen. Den Mond konnte man nicht erkennen. Er war umhüllt von Wolken.
Manuel war schon gegangen. In meinem Kopf schwirrten Gedanken, die mich plagten. Wie sähe meine Zukunft aus? Würde ich je wieder richtig laufen können? Könnte ich je wieder mit Manuel tanzen? So wie zwischen den Leuten? Ich vermutet nicht. Ich war ein Krüppel. Entstellt und ein krüppel. Ich kniff die Augen zu. Ich hatte niemanden außer Manuel. Ohne ihn wäre ich komplett allein. Für alle Zeit. Niemand könnte jemanden lieben, der so aussah wie ich. Der so eingeschränkt war, wie ich.

Am nächsten Morgen kam Manuel sehr früh. Genau pünktlich zum Frühstück. Graubrot, etwas Wurst und Butter. Dazu ein Stück Gurke und einen Kaffee, der nach Wasser schmeckte. "Hat er sich schon vorgestellt?", flüsterte Manuel mir zu, während ich aß. Ich schüttelte den Kopf, wollte was sagen und verschluckte mich. Ich musste so stark husten, sodass die Brotkrümel aus meinen Mund flogen und zurück auf meinen Teller landeten. Manuel fing an, lautstark zu lachen. Auch ich musste lachen. Ein Gemisch aus Lachen, husten und weinen. "Ach du scheiße", keuchte ich. Manuel wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. "Pass doch auf. Du verreckst mir noch." Grinsend reichte er mir mein Glas Wasser.

Während ich trank, bemerkte ich den Jungen, der am Tisch saß. Er kaute auf seinem Brot herum und sah mit einem niedergeschlagenen Blick zu uns rüber. Ich lächelte kurz, als er mir ins Gesicht sah. Doch er schaute direkt weg, auf sein Teller.

Beyond/KürbistumorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt