7.0: d a y s e v e n

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„Na endlich", sagte Harry genervt und sah auf seine Uhr. „Du bist zwei Minuten zu spät."

Ich rollte die Augen.

„Ich wusste nicht, was ich anziehen sollte", gestand ich dann und sah an mir hinunter.

Letztendlich hatte ich mich für ein Kleid entschieden, das nicht zu herausgeputzt aussah, jedoch auch für einen besseren Anlass verwendet werden konnte.

„Du ... siehst doch gut aus", brummte er. Sein Tonfall war abwertend, aber seine Worte waren erstaunlich freundlich.

Ich beschloss, dass ich es als ein Kompliment durchgehen lassen konnte und schmunzelte in mich hinein.

„Wohin gehen wir?", wollte ich neugierig wissen, als wir gemeinsam in den Fahrstuhl traten und damit nach unten fuhren.

„Dieses Mal jedenfalls nicht in die Mensa", erwiderte er und ließ mich somit weiter im Dunkeln tappen.

Ich war mir allerdings noch nicht ganz sicher, ob er mich überraschen wollte oder ob er selbst keine Ahnung hatte.

„Also, Annie", meinte er nach einer Weile, „wieso bist du hier?"

Fragend runzelte ich die Stirn. Ich wusste nicht, ob es der Anfang einer Beleidigung oder eine ernst gemeinte Frage war.

„Ich bin Schauspielerin", erklärte ich ihm, „da wäre ich wohl dumm, wenn ich ein solches Angebot ablehnen würde."

„Das berechtigt meine Frage nur noch mehr", grinste er.

Natürlich musste er das sagen. Es war nun mal Harry, mit dem ich unterwegs war.

Schließlich beschloss ich, die Anmerkung einfach zu ignorieren.

„Und warum bist du hier?", fragte ich ihn dann und Harry zuckte mit den Schultern.

„Ich bin berühmt", sagte er, „und unser Manager hielt es für 'ne gute Idee, zu 'A.M.' ein Musikvideo zu drehen."

„Macht es dir Spaß?", hakte ich dann weiter nach und er presste die Lippen aufeinander.

Als ich in diesem Moment in seine grünen Augen blickte, erkannte ich zum ersten Mal etwas mehr als einen einfachen Idioten. Ich erkannte plötzlich eine Hilflosigkeit, die mir noch nie zuvor aufgefallen war, doch ebenso schnell wie der Augenblick gekommen war, verschwand er auch wieder und Harry blinzelte einige Male, um seine Gedanken zu sortieren.

Im Nachhinein war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte.

„Ich verdiene viel Geld", antwortete er mir, auch wenn es nicht wirklich zu der Frage passte, „und ich kann fast alles machen. Wenn ich wollen würde, könnte ich noch heute auf eine Weltreise gehen und keiner könnte mich davon abhalten."

„Und ... willst du das? Willst du reisen?"

Ich genoss es, einen kurzen Moment lang ganz normal mit Harry reden zu können und wappnete mich gleichzeitig wieder für einen weiteren bissigen Kommentar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er zu seinen alten Gewohnheiten zurückkehren und mich beleidigen würde.

„Ich bin schon viel gereist", sagte er. „Aber ja, vielleicht schon. Mit meiner Freundin und ohne die ganzen Verpflichtungen."

„Du hast eine Freundin?", wollte ich nun erstaunt wissen, da ich mir das ganz einfach nicht vorstellen konnte.

Es versetzte mir einen kleinen Stich, den ich mir nicht erklären konnte. Ich konnte mir Harry nicht als einen charmanten Typen vorstellen, der seiner Angebeteten einen Blumenstrauß schenkte oder sie mit einem Geschenk überraschte, deshalb wunderte es mich auch nicht, als er mit einem 'Nein' antwortete.

„Wir sind da", sagte er schließlich und deutete auf ein Restaurant, das sich direkt vor uns befand.

Es sah teuer aus und ich war froh, dass ich mich für das Kleid entschieden hatte. Nicht vorzustellen, was ich gemacht hätte, würde ich jetzt mit einem Hoodie herumlaufen.

Außerdem war ich erstaunt darüber, dass Harry mich tatsächlich zum Essen eingeladen hatte und das Restaurant wirklich gut aussah. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, vor einem Würstchenstand zu enden, wo wir uns Hotdogs kaufen würden.

„Du wirktest so, als wäre dir das gestern nicht teuer genug gewesen", erläuterte Harry, der meinen überraschten Blick bemerkt hatte, achselzuckend.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach mir richtest", musste ich ehrlich zugeben und er musterte mich kurz.

„Ich auch nicht", gab er dann zurück, bevor er vorauslief.

Ich wusste nicht, wie ich seine Worte zu deuten hatte.

Vor der Tür blieb er stehen und sah sich nach mir um.

„Was ist?", rief er mir zu, „Willst du dort drüben Wurzeln schlagen oder begibt sich die Dame auch noch mal hierher?"

Ohne etwas darauf zu erwidern – ich befürchtete nämlich, damit einen Streit auszulösen, was ich auf jeden Fall verhindern wollte –, folgte ich ihm.

Ein Kellner geleitete uns zu unseren Plätzen und nachdem wir uns beide gesetzt hatten, sah ich ihn nachdenklich an.

„Du meintest, dass du mit deiner Freundin, die du nicht hast, um die Welt reisen möchtest", fing ich nun wieder ein Gespräch an.

„Ja", entgegnete er knapp.

„Warum tust du es nicht? Warum bist du nicht ein wenig freundlicher zu anderen? Ich bin mir sicher, du hättest schon lange eine Freundin, mit der du all das unternehmen könntest, wenn du es wärst."

„So bin ich eben nicht", erwiderte er hart und spannte seinen Kiefer an. „Und noch dazu habe ich leider eine ganze Menge Verpflichtungen, die mich daran hindern."

Ich nickte nur.

„Und du?", fragte er dann, „Möchtest du reisen?"

„Auf jeden Fall", antwortete ich sofort.

„Warum tust du es nicht?", wiederholte er meine Frage und ich blieb stumm. „Siehst du?", meinte er dann.

Er hatte Recht, was mich auf irgendeine Art und Weise störte.

„Ich habe schließlich auch nicht das Geld!", verteidigte ich mich.

„Und ich habe die Zeit nicht", konterte er und wir sahen uns an.

„Es scheint wohl, als müssten wir beide unglücklich bleiben", seufzte ich.

„Tja, du wohl unglücklicher als ich", entgegnete er und schenkte mir einen gönnerhaften Blick. „Ich weiß wenigstens, dass ich es irgendwann tun könnte. Aber bei deinen Fähigkeiten wirst du wohl arm sterben."

Die Zeit, in der Harry seine Arschloch-Seite nach hinten geschoben hatte, war scheinbar vorbei und meine Gesichtszüge verhärteten sich.

Allerdings traf mich sein Kommentar heute nicht ganz so hart, denn ich wusste nun, dass es irgendwo, tief in ihm, auch noch etwas anderes als den Idioten gab, den ich sonst immer gesehen hatte.

Annie || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt