6.1: d a y s i x

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Verwirrt folgte ich Harry zum Aufzug.

So eine plötzliche Einladung hatte ich nicht von ihm erwartet. Vor allem nicht nach dem, was er gestern zu mir gesagt hatte.

Wollte er sich womöglich bei mir entschuldigen? Ich war nicht sonderlich nachtragend und beschloss insgeheim für mich, die Entschuldigung anzunehmen, falls er sie aussprach.

Vielleicht, dachte ich mir, konnten wir sogar wirklich noch so etwas wie eine gute Arbeitsbeziehung pflegen – Freundschaft wäre wohl zu viel verlangt gewesen.

Der Aufzug kam, die Türen öffneten sich, wir traten ein und er drückte auf den Knopf, der uns zum Erdgeschoss bringen würde.

Wir schwiegen beide.

Es wurde eine sehr lange Fahrt nach unten, bei der ich die Gelegenheit hatte, ihn ein wenig genauer zu mustern. Sein Gesicht sah ernst aus, möglicherweise sogar ein wenig missmutig, mit einer leichten Falte zwischen den minimal zusammengezogenen Augenbrauen. Er hatte sich frisch rasiert, sodass nur eine schwache, dunklere Verfärbung ahnen ließ, wo sein Bart war, wenn er diesen wachsen lassen würde.

„Was guckst du?", knurrte er und ich zuckte mit den Achseln.

„Gar nichts", murmelte ich und sah zur Seite.

„Und", grinste er spöttisch, „gefällt dir 'gar nichts'?"

„Nein", sagte ich trocken.

Sein Grinsen schwand, doch im gleichen Moment öffneten sich die Türen und nahmen ihm eine Erwiderung ab.

Mit schnellen, wütenden Schritten stapfte er den Flur entlang, während ich immer verwirrter wurde.

Unsicher blickte ich zurück und sah auf die großen Glastüren, die aus dem Hotel hinausführten.

Wieso liefen wir in die entgegengesetzte Richtung? Gab es noch einen zweiten Ausgang?

Abrupt wandte er sich nach links, sodass ich die Kurve fast verpasst hätte. Und dann wusste ich, wohin wir gingen. Die Terrasse des Hotelrestaurants.

„Ist das dein Ernst?", keuchte ich und holte zu ihm auf.

Er schielte zu mir nach unten.

„Was ist mein Ernst?", stellte er sich dumm und zog eine Augenbraue hoch.

„Das meintest du mit 'wir gehen raus'?", hakte ich ungläubig nach, während er die Türen zur Hotelterrasse aufstieß. Ein leichter Wind fuhr durch unsere Haare und blähte seinen Mantel auf.

„Ist doch draußen", erwiderte er höhnisch und zog mich zu einem der Tische.

Verdattert ließ ich mich ihm gegenüber auf den Stuhl sinken.

Als er in mein Hotelzimmer gekommen war, hatte ich erwartet, wir würden in irgendein Café oder Restaurant gehen, aber doch nicht in die etwas bessere Cafeteria unseres eigenen Hotels!

Nun zweifelte ich auch wieder daran, dass er sich bei mir entschuldigen wollte.

„Also", fing ich schließlich trotzdem ein Gespräch an, doch er unterbrach mich, bevor ich wirklich loslegen konnte.

„Kartoffelbrei mit Würstchen oder vegetarisch?", fragte er mich.

„Was?", murmelte ich perplex und er rollte die Augen.

„Hör zu, ich habe die Leute hier extra dazu überredet, dass sie uns das Essen schon früher machen. Also, was willst du?"

„Ich ...", ich stockte kurz, „vegetarisch", entschied ich mich dann kurzerhand.

„Ein Vegetarier bist du also", stellte er fest und stand auf.

„Nein", erklärte ich, „ich habe nur keine Lust auf Kartoffelbrei."

Er nickte. „Bleib hier. Ich hole es."

Unsicher blieb ich sitzen und sah auf meine Hände.

Ich war enttäuscht und wusste nicht einmal wirklich, wieso. Was hätte ich auch anderes von ihm erwarten sollen? Ich hatte es hier schließlich mit Harry und nicht mit einem missverstanden Gentleman zu tun.

Wenigstens holte er das Essen!

Nach einigen Minuten kam er wieder. Auf seinen Händen balancierte er zwei Tabletts. Auf einem von ihnen waren Würstchen und Kartoffelbrei, auf dem anderen lediglich ein gelber Klecks Kartoffelbrei.

„Das war vegetarisch", erklärte er mir grinsend, als er mir den Teller Kartoffelbrei vor die Nase stellte. „Guten Appetit."

Entgeistert starrte ich auf mein Essen, bis ich schließlich zu meiner Gabel griff und damit lustlos in meinem Brei herumstocherte. Mir war der Hunger vergangen.

„Also", meinte Harry und schob sich seine eigene Gabel in den Mund, „und jetzt zum Dreh. Irgendwie müssen wir es hinbekommen, das verliebte Pärchen überzeugend zu spielen."

„Vielleicht würde das ja besser funktionieren, wenn du dich freundlicher mir gegenüber verhalten würdest", stellte ich klar und schob den Teller weg, ohne wirklich etwas davon gegessen zu haben.

Er sah prüfend darauf und dann wieder zu mir.

„Hey, ich habe dir dein Essen geholt, damit das klar ist!"

„Das stimmt", erklärte ich, „allerdings hast du mich zum Essen in die Hotelmensa eingeladen und gibst mir dazu das, was ich nicht haben möchte. Das ist kein Fortschritt."

„Und was soll ich deiner Meinung nach machen?", fuhr er mich schlecht gelaunt an.

„Nicht das!", rief ich enttäuscht und deutete auf den Teller vor mir, woraufhin ich eine ausladende Bewegung machte, welche die ganze Situation einschloss.

In diesem Moment hörte ich Geräusche und erkannte Harrys Bandkollegen, die zusammen mit meinen Kolleginnen auf die Terrasse hinaustraten und sich lachend an den Tisch neben uns setzten.

„Hazza!", meinte Louis freudig und schlug in die Hand seines Freundes ein, während sowohl Liam als auch Niall uns verwirrt ansahen.

„Was macht ihr hier?", fragte Niall irgendwann und setzte sich ebenfalls.

Auf seinem Teller befand sich eine große Portion Gemüse und Kartoffeln. Kartoffelbrei war also nicht das vegetarische Gericht gewesen. Natürlich nicht.

„Essen", erklärte Harry gelassen. „Und wir unterhalten uns über den Dreh."

Auch Liam runzelte die Stirn.

„Warum hier?", wollte er dann leise in Harrys Richtung wissen und dieser zuckte mit den Achseln.

„Hier muss ich nichts bezahlen", erläuterte er seinem entsetzt aussehenden Freund.

„Das meinte ich nicht, als ich sagte, du sollst sie als Entschuldigung zum Essen einladen", zischte Liam ihm aufgebracht zu, doch ich konnte sie verstehen.

Es hätte mir doch klar sein müssen, dass diese Idee nicht von Harry stammen konnte.

Er war ganz einfach ein Arschloch, was sich auch in nächster Zeit nicht ändern würde.

Annie || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt