1.0: d a y o n e

4K 125 5
                                    

„Na, aufgeregt?" Mein Vater musterte mich kritisch durch den Rückspiegel.

„Es ist nur ein Job, Dad. Nicht weiter besonders." Ich zuckte mit den Achseln und sah aus dem Fenster, wo sich Englands weite Landschaft erstreckte.

„Es ist der größte Job, den du jemals hattest", gab mein Vater zu bedenken, doch mir war das eigentlich gleichgültig.

„Das unterscheidet ihn auch nicht von allen vorherigen", erklärte ich ihm also ehrlich und verfiel dann wieder in mein Schweigen. Es war keine unangenehme Stille. Ich genoss die ruhige Autofahrt und meine Eltern und ich konnten prima einige Stunden lang schweigend auskommen.

Theoretisch hätte ich aufgeregt sein sollen. Es war schließlich der Dreh eines One Direction Musikvideos, zu dem man mich eingestellt hatte, aber meine Gefühle schienen das nicht zu verstehen. Ich war vollkommen gelassen.

„Schau mal, Annie", meinte mein Vater plötzlich und ich sah auf. „Der Flughafen!"

Ich nickte. „Ja, ich seh's."

Ein großes Flugzeug landete gerade in diesem Moment und ich hätte schon blind sein müssen, um es nicht gesehen zu haben. Und trotzdem, das Gefühl der Aufregung wollte sich nicht wirklich ausbreiten.

Auch als das Auto kurz darauf hielt, wir ausstiegen und ich mich letztendlich von meinen Eltern verabschiedete, war ich nicht sonderlich nervös. Ich hatte auch keinen wirklichen Grund dazu, denn ich gab meine Koffer am richtigen Ort ab und fand auch unseren Treffpunkt ohne Weiteres. Zudem war ich nicht die Erste, die dort ankam – ich würde nicht allein fliegen, sondern mit einigen anderen Personen, die ebenfalls am Dreh beteiligt sein würden. Diese waren bereits vor Ort. Allerdings gab es meines Wissens nach nur drei weitere Mädchen, die ebenfalls vor und nicht hinter der Kamera stehen würden.

Wie immer war ich ein wenig früh, daher überraschte es mich, als man mir sagte, eine meiner Kolleginnen sei schon anwesend. Suchend streifte mein Blick über die Menge, bis ich das auf die Beschreibung passende, rothaarige Mädchen erblickte, das mit nachdenklichem Blick hinaus zu den etlichen Fliegern sah. Nervös überprüften ihre Hände immer wieder, ob ihre weiße Bluse noch richtig saß und ihre Handtasche sich noch unter ihrem Sitz befand. Selbstbewusst trat ich näher. Zur Begrüßung schenkte ich ihr ein Lächeln, ließ mich dann neben ihr nieder und musterte sie einige Augenblicke, bevor ich mich wieder wegdrehte und die Flugzeuge auf dem Rollfeld durch die Glasscheibe beobachtete. Einer davon musste der Flieger sein, mit dem wir letztendlich in die USA reisen würden – oder das entsprechende Flugzeug war noch nicht gelandet.

Nachdenklich sah ich auf meine Uhr. Zwei Minuten vor elf. Langsam sollten sich meine Kolleginnen beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollten. Erneut richtete ich meinen Blick auf das sich weit erstreckende Rollfeld. Das Boarding war um elf und ich fragte mich langsam, ob der Rotschopf und ich ohne die anderen Mädchen fliegen würden.

Noch einmal überprüfte ich die Armbanduhr: Nur noch wenige Sekunden bis elf.

Ein plötzlicher Tumult sorgte auch für Unruhe unter den Wartenden und ich sah auf, um zu sehen, wer für den überraschenden Stimmungswechsel verantwortlich war. Meine dunkelgrünen Augen erfassten eine hübsche, junge Frau mit kaffeebrauner Haut und einem wilden Afro, die etwa in meinem Alter zu sein schien und die mit langen Schritten auf uns zu kam. In einer Hand hielt sie eine schwarze Lederhandtasche, aus der ein kleiner Hund, wahrscheinlich ein Chihuahua, welcher mit irgendeinem grauen Hoodie für Hunde gekleidet war, herausguckte. Kurz bevor sie bei uns angekommen war, drehte sie sich nach hinten und winkte einigen Mädchen zu, die ihr gefolgt waren.

„Wie süß ihr seid!", rief sie gerührt, wandte sich ganz um und ging einige Schritte zurück, auf die Mädchen zu. „Lasst euch drücken!"

Ihre Freundinnen, wie ich argwöhnte. Meiner Meinung nach ein etwas übertriebener Abschied, schließlich sollte der Videodreh nicht länger als zwei Wochen dauern, aber wenn sie meinte ...

Erst, als sie einigen der jüngeren Mädchen auf ihren Kappen, Shirts oder Armen unterschrieb, realisierte ich, dass es sich bei dem Abschiedskommando nicht um Freunde, sondern um Fans handelte. Eine ganz große Berühmtheit, die wir hier wohl vor uns hatten.

„Na ihr zwei?", meinte diese begrüßend und lächelte mich und den Rotschopf herzlich an. „Ich bin Amira, das ist Chico", sie deutete auf den Hund in ihrer Tasche, den ich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. „Und ihr seid?"

„Annie", stellte ich mich eilig vor, erhob mich vom Sitz und streckte meine Hand zu einer Begrüßung aus.

Das Mädchen mit dem Afro zog mich jedoch in eine stürmische Umarmung, die ich ein wenig befangen erwiderte. Rotschopf neben mir war währenddessen auch schon hektisch aufgesprungen und ließ sich nun ebenfalls in eine Umarmung ziehen. 

Sie musste sich einmal räuspern, bevor sie ihre Stimme gefunden hatte.

„Emily", nannte sie dann ihren Namen und ließ sich zurück in den ungemütlichen Sitz fallen.

Die neu Dazugekommene hatte sich in der Zeit wieder ihrem Hund zugewandt und half diesem nun aus der Tasche.

„Na mein Süßer, bist du draußen nass geworden?", sprach sie mit dem kleinen Tier, hob den schwarzbraun gefleckten Hund hoch und drückte ihm einen Kuss auf die Schnauze. „Aber Mummy hat dir einen schönen neuen Bademantel gekauft, damit du trocken werden kannst!"

Erst in diesem Moment begriff ich, dass das von mir vorher fälschlicherweise als Hoodie bezeichnete Kleidungsstück ein Bademantel war. Ein Bademantel für Chihuahuas. Was die Welt nicht so alles brauchte ...

„Sollten wir nicht vier sein?", fragte die Braunhaarige irgendwann verwirrt und sah sich suchend um.

„Nummer vier ist noch nicht da", gab ich zurück.

Daran, dass es stiller wurde, erkannte ich, dass irgendetwas die Aufmerksamkeit der anderen erregt hatte und ich sah mich nach der Ursache dafür um. Es war unsere Flugmannschaft, die sich nun vorstellte und ankündigte, dass wir gleich mit dem Boarding beginnen würden.

Anscheinend waren wir wohl doch nur zu dritt.

„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen", hörte ich plötzlich jemanden sagen und fuhr herum. „Hi, ich bin Lena", stellte das blonde Mädchen sich etwas atemlos vor und sah sich um. „Ganz schön was los hier, nicht?"

Als Antwort lächelte ich unbestimmt und sah nach vorne. Ich wusste noch nicht ganz, was ich von meinen neuen Kolleginnen halten sollte.

Annie || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt