12.1: d a y t w e l v e

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Eine weiche Hand, die mir über die Wange strich, weckte mich aus meinen Träumen. Blinzelnd öffnete ich meine grünen Augen und wusste zunächst nicht, wo ich mich befand, bevor ich in ein weiteres grünes Augenpaar blickte, das ich zwar erst seit etwas mehr als eineinhalb Wochen kannte, welches mir in dieser Zeit jedoch so vertraut geworden war, dass ich es überall erkannt hätte.

„Harry?", murmelte ich verschlafen und rieb mir die Augen.

Noch bevor ich überhaupt richtig wach werden konnte, hämmerte es an der Tür.

„Was ist denn mit euch los, verdammt?! Wieso seid ihr nicht unten?"

„Gib uns fünf Minuten", rief Harry der Stimme, die aus dem Flur kam, zu und wandte sich dann wieder mir zu. „Guten Morgen, Schlafmütze."

Langsam wurden meine Gedanken klarer und ich begann mich zu erinnern, wieso ich überhaupt hier war.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber als ich gestern Abend eingeschlafen bin, lag noch niemand neben mir", grinste Harry.

„Tut mir leid", entschuldigte ich mich sofort und rappelte mich auf. Ich konnte nicht lange geschlafen haben, vielleicht höchstens eine halbe Stunde, denn Mr Winston würde sicherlich nicht erlauben, dass auch ich dem Dreh so lange fortblieb.

„Es war eine angenehme Überraschung, also musst du dir keine Gedanken machen", sagte Harry nun jedoch und drückte mir einen sanften Kuss auf die Lippen. „Kein Grund, sich entschuldigen zu müssen."

„Eigentlich wollte ich dich doch aufwecken", seufzte ich und fühlte mich mit einem Mal ziemlich ausgelaugt.

„Ich bin in der Tat sehr glücklich aufgewacht, als ich dich gesehen habe", flirtete Harry weiter und ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht breit zu grinsen. Dass sein Kompliment mich so aus der Fassung brachte, wollte ich ihm nicht zeigen.

„Wir müssen runter, Mr Winston bringt uns um", erklärte ich ihm und war schon drauf und dran, aus dem Bett zu klettern, doch Harry zog mich zurück, sodass ich nach hinten fiel und nun mit dem Kopf auf seiner Brust lag. Zum Schlafen hatte er lediglich eine Boxershorts angezogen, weshalb meine Wange direkt auf seiner warmen Haut lag. Ich konnte sein Herz schlagen hören. Nie zuvor hätte ich geglaubt, dass der Herzschlag einer anderen Person mich so dermaßen glücklich machen könnte, aber nun war es das schönste Geräusch, das meine Ohren jemals gehört hatten.

„Wir könnten natürlich auch sagen, dass wir uns nicht gut fühlen und deshalb hier bleiben müssen", schlug Harry mit einem schelmischen Ton in der Stimme vor, während ich meine Arme um ihn schloss.

„Das könnten wir natürlich tun", murmelte ich leise zurück und schloss die Augen erneut. Obwohl ich es normalerweise hasste, meine Arbeit zu verpassen, war das Angebot heute ausgesprochen verlockend für mich. Der Gedanke an einige weitere Stunden allein mit Harry fühlte sich so gut an, dass ich mir nicht vorstellen konnte, was falsch daran sein sollte.

„Ich schreibe Liam", lachte er in sich hinein, da er mein Zögern wohl bemerkt und als Antwort genug einsortiert hatte.

Ich spürte, wie er sich zur Seite lehnte und etwas von seinem Nachttisch holte – sein Handy, wie ich vermutete. Ohne meine Augen zu öffnen, tastete ich nach der weichen Decke und kuschelte mich darin ein.

„Wie habe ich das nur verdient", sagte Harry irgendwann leise. Gedankenverloren strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht. Langsam öffnete ich meine Augen, um ihn anzusehen. „Wie habe ich dich nur verdient, Annie? Ich war immer so unfreundlich zu dir und bin es manchmal noch immer ... wie kannst du trotz allem jetzt hier, bei mir, sein?"

„Du brauchst mich", antwortete ich schlicht und er zog einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln empor, das seine Augen jedoch nie erreichte.

„Das konntest du unmöglich wissen."

Nun wieder hellwach richtete ich mich auf und musterte all seine Gesichtszüge ganz genau, um sie mir exakt einprägen zu können.

„Dein Gesicht wirkte gleichgültig. Aber deine Augen, deine Augen haben um Hilfe geschrien. Deswegen habe ich dich nicht aufgegeben."

Er lächelte mich noch immer traurig an.

„Wie kann dir etwas aufgefallen sein, was den anderen acht Milliarden Menschen dieser Erde entgangen ist?"

„Es ist nicht nur mir aufgefallen", korrigierte ich ihn. „Deine Freunde bemerken es ebenfalls. Sie machen sich Sorgen um dich, siehst du das denn nicht, Harry?" Kurz überlegte ich, ob ich noch einen weiteren Gedanken anfügen sollte, der mir in den Sinn gekommen war, denn ich befürchtete, er würde wieder böse werden, doch ich entschloss mich, mutig zu sein und sagte nach einigem Zögern: „Auch Eleanor. Ich weiß, dass du sie nicht leiden kannst, aber sie hat deinen Schmerz gesehen und gehofft, dass ich diejenige bin, die ihn dir nehmen kann."

Es herrschte Schweigen zwischen uns, was mir mehr als nur unangenehm war. Dann jedoch meinte Harry: „Da hatte sie wohl einmal in ihrem Leben Recht."

Bei diesem Satz machte mein Herz einen kleinen Sprung. Nicht nur, weil er damit gerade bestätigt hatte, wie besonders ich für ihn war sondern auch, weil es der zurückhaltende Beginn war, ihr endlich dafür zu verzeihen.

„Sie hat genau das Gleiche wie du erlebt", fuhr ich nun mit mehr Selbstbewusstsein fort. „Auch sie war berühmt und auch sie wurde davon erdrückt. Aber sie war nicht so stark, wie du es bist und hat aufgegeben. Mach es ihr nicht zum Vorwurf, denn du bist derjenige, der am besten wissen müsste, wie schwer es ist, in einer solchen Situation weiterzumachen."

Ich hielt den Atem an. Jetzt waren die Worte gesagt, ich konnte es nicht mehr rückgängig machen und ich rechnete damit, dass er mich gleich wieder dafür anfahren würde. Stattdessen blieb er ruhig.

„Ich weiß nicht, ob ich es jemals so sehen kann", meinte er schließlich, „aber ich verstehe, was du meinst. Ich werde es auf jeden Fall im Kopf behalten."

Sein Handy riss uns aus der Unterhaltung, da es klingelte.

„Liam", seufzte er und griff danach, um den Anruf anzunehmen. „Scheinbar zieht unsere Ausrede nicht."

Annie || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt