8.2: d a y e i g h t

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Als ich seine Lippen auf meinen spürte, gingen mir mehrere Gedanken durch den Kopf.

Der erste lautete: Was passiert hier gerade? Irgendwas in meinem Kopf konnte sich nicht erklären, wie wir von zwei Streitenden hierhergekommen waren.

Ein anderer Gedanke spürte Harrys plötzliche Zärtlichkeit nach den ganzen harten Worten und Beleidigungen, die er mir zuvor gegen den Kopf geschleudert hatte. Seine weichen Lippen waren sogar ein wenig zurückhaltend und nervös, Eigenschaften, die ich vorher an ihm noch nicht gekannt hatte.

Ja, ein winziger Teil von mir genoss das sogar.

Doch dann schalteten sich die Alarmglocken in meinem Kopf ein und der Gedanke, dass etwas absolut falsch lief, machte sich in mir breit. Vor etwa fünfzehn Minuten hatten wir uns gestritten und jetzt küssten wir uns?

Erschrocken riss ich die Augen auf.

Er spürte wohl, dass sich etwas bei mir geändert hatte, denn er öffnete seine Augen ebenfalls und sah mich fragend an.

Hastig stolperte ich einige Schritte zur Seite, strauchelte, da ich meine Füße nicht mehr unter Kontrolle hatte und wäre wohl hingefallen, hätte er mich nicht aufgefangen.

Als ich wieder sicher stand, machte ich dennoch einige Schritte rückwärts, sodass uns ein guter Meter Entfernung trennte.

„Es tut mir leid", murmelte er heiser, räusperte sich und fuhr sich durch die Haare. „Ich ... ich dachte, ..."

Schluckend schüttelte ich den Kopf. „Nein, ... vergessen wir das einfach."

Auch er schluckte nun, seine Finger suchte einen der vielen Ringe an seiner Hand und spielten nervös daran herum. „Ich schaffe es auch wirklich, jeden Moment zu versauen, oder?"

Darauf antwortete ich nichts, weil ich mir nicht sicher war, ob er es ehrlich meinte.

Einerseits hatte ich ihm gerade einen Korb auf voller Linie gegeben, andererseits sah ich in seiner Mimik zwar Traurigkeit, aber auch eine Zärtlichkeit, die ich niemals von ihm erwartet hätte.

Doch noch bevor ich wieder wegschauen konnte, wurden seine Gesichtszüge härter, während seine Augen sich auf etwas hinter mir richteten.

Verwirrt sah auch ich mich um, erkannte allerdings nicht, was ihn so aufbrachte. Ich konnte den Eingang des Hotels und mehrere Leute, die geschäftig hinein und hinaus gingen, sehen, wusste jedoch nicht, was daran so schlimm war.

„Verdammt", fluchte er leise, „was macht die denn hier?"

Und dann rannte er ganz einfach los und ließ mich allein in dem kleinen Parkgelände stehen.

Verdattert sah ich ihm hinterher und hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte.

Schließlich beschloss ich, ihm hinterherzugehen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte und es kam mir absolut armselig vor, hier ganz allein stehenzubleiben.

Seine aufgebrachte Stimme konnte ich schon hören, als ich durch die große Tür in das Hotel eintrat. Er schien mit jemandem zu streiten und es war ungewohnt, ihn nur als Zuhörer zu hören und nicht diejenige zu sein, auf die er seine Wut entlud.

Allerdings war ich mir auch nicht sicher, ob ich erfahren wollte, wer diese andere Person war, die ihn dazu brachte, alles andere stehen und liegen zu lassen.

„... nicht schon genug angetan?", hörte ich ihn laut rufen und eilte der Stimme hinterher bis hin zu dem Bereich vor den Aufzügen.

Ihm gegenüber stand ein braunhaariges Mädchen, welches mit verschränkten Armen alles, was er ihr vorwarf, über sich ergehen ließ.

Harry hingegen war so beschäftigt damit, sie anzuschreien, dass er mich gar nicht bemerkte.

„Du sollst von hier verschwinden, verstehst du?!", tobte er und sie presste die Lippen aufeinander.

„Harry", meinte sie irgendwann mit besänftigender Stimme, „ich kann verstehen, dass du wütend auf mich bist. Glaube mir, das kann ich wirklich! Aber es war nicht so, wie alle geglaubt haben. Lässt du mich jetzt bitte durch, sodass ich zu seinem Zimmer kann?"

„Beim letzten Mal habe ich versucht, ihn zu trösten, als du ihn verlassen hast", sagte er kalt. „Ich lasse nicht zu, dass das noch einmal passiert."

Verwirrter als je zuvor trat ich langsam zu Harry.

Noch immer sah er das Mädchen ihm gegenüber an, doch diese erblickte nun mich und ein fragender Blick trat in ihre Augen.

Nun wurde auch Harry auf mich aufmerksam und beäugte mich.

„Annie", meinte er und fast schon ein wenig verteidigend stellte er sich leicht vor mich.

„Was ist denn hier los?", wollte ich unsicher wissen.

„Ich bin Eleanor", stellte sich das Mädchen vor. „Ich muss zu Louis."

„Ganz sicher nicht", knurrte Harry wütend und dann sagte er zu mir: „Sie hat ihm schon einmal das Herz gebrochen. Das wird nicht ein weiteres Mal passieren."

Unsicher sah ich von ihm zu Eleanor und wusste nicht, was ich glauben sollte.

Einerseits konnte ich natürlich verstehen, dass Harry seinen besten Freund beschützen wollte und es rührte mich sogar, dass er sich so für ihn einsetzte.

Andererseits konnte ich kaum glauben, dass sich Louis' Situation noch mehr verschlechtern konnte, so hart es auch klang. Momentan sah Harrys bester Freund für mich nicht sonderlich gut aus und vielleicht war diese Eleanor wirklich gekommen, um ihm zu helfen.

„Ich finde es gut, dass du auch jemanden gefunden hast", meinte sie in diesem Moment und sowohl Harry als auch ich brachen in lauten Protest aus. Sie lachte leise. „Scheinbar wollt ihr es nur noch nicht einsehen." Einige Sekunden lang sah sie prüfend von mir zu Harry. „Du kannst mich nicht davon abhalten, zu ihm zu gehen, Harry. Und ich verspreche dir: Ich werde meinen Fehler nicht noch einmal machen. Dieses Mal werde ich bleiben. Und ich hoffe, dass du auch jemanden gefunden hast, der dir Halt gibt."

Sie warf mir noch einen Seitenblick zu, dann zwängte sie sich ganz einfach an ihm vorbei und war im Aufzug verschwunden.

Annie || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt