Kapitel 9 : Wege

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Océane

Draußen wartete Yumi auf mich und hakte sich bei mir ein. Mit hastigen Schritten flüchteten wir Richtung Metro, um zu unserem Hotel zu fahren. Mehrere Fans betrachteten mich wütend, aber zum Glück flog mir kein Kommentar um die Ohren. Im Hotel angekommen sperrte ich mich erst einmal im Badezimmer ein, stellte mich in die Dusche und ließ die Tränen laufen. Ich fühlte mich schrecklich. Wut beschleunigte meinen Herzschlag, zerfetzte mein sonst so gutes Selbstbewusstsein, sodass Unsicherheit mich überflutete. Es erinnerte mich an eine Zeit, in der dieses Gefühl omnipräsent gewesen war und mich erdrückt hatte.

Yumis Klopfen an der Tür unterbrach meine aufkommenden und schmerzhaften Erinnerungen. „Möchtest du reden, Océane?", rief sie sanft.

Erst räusperte ich mich und erwiderte dann mit fester Stimme, dass dies nicht nötig sei, ich käme jetzt und dann würden wir etwas in der Stadt essen gehen.

Nachdem ich mich angezogen hatte und einigermaßen stark fühlte, wagten wir uns hinaus. In einem Pub bestellten wir dann Fish&Chips, genossen das englische Bier und unterhielten uns über das Konzert. Das Thema Fan-Treffen umgingen wir so gut wie möglich, obwohl ich die brennende Neugierde in Yumis Augen sah. Schließlich hielt ich es nicht aus und erzählte ihr, was vorgefallen war. Ich verschwieg ihr kein einziges Detail, um später keine Vorwürfe zu hören.

Während meiner Erzählung merkte ich plötzlich, wie Mädchen an unserem Nebentisch miteinander tuschelten und mich ungeniert anstarrten. Auch Yumi hatte sie bemerkt und wollte gerade nach ihrer Jacke greifen, um zu gehen, da schob sich ein Stuhl an unserem Tisch zurück und ein blau-haariges Mädchen setzte sich. Sie lächelte mich freundlich an. „Entschuldigt, dass ich einfach so reinplatze, aber ist es wahr, dass du Fynn zweimal begegnet bist?"

Meine Miene versteinerte. Kurz erwog ich einfach zu gehen, aber Yumis Kopfschütteln hinderte mich daran. Wenn ich jetzt floh, würde alles nur realer und öffentlicher werden. „Ja, das stimmt", erwiderte ich kurz angebunden, „Und das war auch schon alles, mehr kann ich euch nicht erzählen."

„Oder willst du uns nicht mehr erzählen?", fragte da das Mädchen neugierig nach. Sie war nicht unhöflich, in dem was sie sagte, es war bloß unangenehm, darauf angesprochen zu werden.

Entschieden griff Yumi nach der Rechnung, zog mich hoch und sagte in einem: „Tut uns leid, aber wir haben heute einen vollen Besichtigungsplan."

Das Mädchen schien verstanden zu haben, dass ihre Fragen uns sauer aufstießen, deswegen beugte sie etwas beschämt den Kopf.

Erleichtert traten wir nach draußen. Yumi lachte auf. „Du wirst noch zu einer Berühmtheit, ohne irgendetwas gemacht zu haben."

„Wenn Ruhm so aussieht, möchte ich ihn nicht", antwortete ich ernst. „Wie soll man da glücklich werden?"

Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Zug zurück nach Lüttich. Wehmütig besahen wir die Videos und Fotos, die wir auf dem Konzert gemacht hatten. Nachdem wir uns so lange auf das Konzert gefreut hatten, war es ein seltsames Gefühl, nichts zu haben, auf das es sich so sehr zu freuen lohnte.


Fynn

Abends, wenn er alleine war, erinnerte er sich an ihre Begegnung und schrieb es in sein Tagebuch. Sie waren bereits seit gestern Nachmittag in einem neuen Land, wo sie diesmal ein paar Tage Zeit hatten, um sich zu erholen, bevor das nächste Konzert sie rief.

Sein Chef hatte getobt, noch schlimmer als beim letzten Mal. Die Anschuldigungen, dass Fynn dabei war, alles zu zerstören, hatte er scharf von sich gewiesen. Und dann hatte er gedroht, die Band zu verlassen, wenn ihnen nicht ein wenig mehr Freiheiten gegönnt würden. Das hatte einen Aufschrei auch von seinen Freunden gegeben und er hatte ihnen erklären müssen, dass es nicht wegen des Mädchens sei. Er brauche etwas Abstand von allem. Denn der Druck der Perfektion begann ihn zu zerstören. Mehr und mehr merkte er, wie er entgleiste, wie der kleine Ball von Müdigkeit immer überwältigender wurde. Da hatte sein Chef eingeknickt und um Bedenkzeit gebeten.

Wieder einmal entfaltete er jetzt den Zettel in seinen Händen, betrachtete ihn lange und abwägend. Alexander neben ihm seufzte, riss ihm ungeduldig das Stück Papier aus der Hand, griff nach Fynns Handy, das auf dem Nachttisch lag. Fynn zischte, er solle nicht wagen, anzurufen.

Unbeeindruckt zuckte Alexander grinsend mit den Schultern. „Seit Stunden sitzt du hier so tatenlos rum. Ich habe nicht meinen ganzen Charme aufgebraucht, bloß damit du hier versauerst, ohne es wenigstens zu wagen. Nach allem, was passiert ist, kann es nicht schlimmer werden."

„Gib mir den Zettel und mein Handy, bitte, ich mach's", versprach Fynn. Sobald er den Zettel in Händen hielt, tippte er die Nummer, hielt dann inne, weil er nicht wusste, was er schreiben sollte.

Mit hochgezogener Braue beobachtete Alexander ihn. „Kneif nicht."

„Dann sag mir, was ich schreiben soll."

„Wie wäre es mit einem: 'Ich warte auf die Gelegenheit dich zu küssen'?"

Fynn lachte und murmelte: „Idiot. Das würde sie garantiert nicht beeindrucken."

„Ach nein? Dafür ist es während des Fan-Treffens aber heiß hergegangen zwischen euch beiden", schmunzelte Alexander.

Augenrollend tippte Fynn schließlich inspirationslos: Ich hoffe, ihr seid gut nach Hause gekommen. Fynn

Es war ein langweiliger Satz und vor allem ein langweiliger Anfang einer Diskussion, aber Fynn fiel nichts Besseres ein. Alexander schnaubte. „Lösche das lieber."

„Zu spät", sagte Fynn und drückte auf „Senden".

Do you trust me?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt