Kapitel 21: Sprenkel der Vergangenheit

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Fynn


Nachdem Océane die ganze Fahrt über geschlafen hatte, entschied er sich, sie in ihr Bett zu tragen. Fynn hob sie auf seine Arme, drückte sie eng an sich und marschierte los. Yumi verabschiedete sich von allen und folgte ihm dann mit unsicherem Schritt. Schweigend öffnete sie ihm die Tür und ließ ihn eintreten. Vorsichtig trat Fynn auf das Bett zu und legte seine Last ab, das etwas Unverständliches brummte. Yumi half ihm dabei, Océanes Schuhe auszuziehen und sie zuzudecken. Dann verschwand sie ins Badezimmer.

„Fynn", murmelte Océane, klammerte sich an seinen Arm, als er im Begriff war zu gehen.

„Ssscht, schlafe ein wenig. Wir sehen uns morgen." Und bevor er es sich anders überlegen konnte, küsste er ihre Stirn. Mit leisem und beschwingtem Schritt ging er aus dem Hotelzimmer und zu seinen Freunden.


Océane

Am nächsten Morgen wachte ich im Gegensatz zu Yumi ohne einen riesigen Kater auf. Murrend drehte sie sich auf die andere Seite, als ich sie weckte und zum Aufstehen animieren wollte.

„Sklaventreiber", spie sie aus und zeigte mir den Stinkefinger.

„Deine Schuld, hättest ja nicht so viel saufen müssen", entgegnete ich ungerührt.

Yumi schnaubte schlecht gelaunt: „Und das aus deinem Munde."

Ich ignorierte ihren Kommentar und zog mitleidlos die Decke weg. „Wir haben eine Verabredung zum Frühstück mit den anderen, weißt du das nicht mehr?"

„Frühstückt doch einfach ohne mich."

Seufzend gab ich mich geschlagen. „Na gut. Dann bis gleich. Trink genug. Und wenn du Kopfschmerztabletten oder so brauchst, ich habe welche in meinen Koffer eingepackt."

Die anderen warteten bereits im Hoteleingangsbereich. Ich entschuldigte Yumi und hakte mich bei Fynn ein, der mir ganz galant den Arm anbot.

Das Frühstück verlief relativ ruhig, da wir alle noch ziemlich müde von der gestrigen Nacht waren. Das Läuten meines Handys unterbrach das lockere Schweigen und ich griff danach. Es hätte mich nicht erstaunt, wenn Yumi plötzlich wissen wollte, wo wir genau frühstückten, um bis dort zu kommen. Aber es war nicht Yumi, sondern Sebastien. Als ich seinen Namen entdeckte, wurde mein Herz ganz schwer und Nervosität erfasste mich. Was konnte er wollen? Wie lange wollte er mich noch quälen? Durch FL's Anwesenheit hatte ich die Gedanken an ihn geschickt in die hintersten Winkel meines Bewusstseins verdrängen können. Seufzend las ich seine Nachricht durch.

Deine Mutter liegt im Krankenhaus. Ein Ex-Klient hat sie verprügelt. Komm sie verdammt nochmal besuchen, Océane, sie ist deine Mutter um Gottes Willen.

Gewissensbisse krallten sich in mich, verlangten nach Balsam und rissen an den Wunden, die meine Familie in mir geschlagen hatte. Vor lauter Aufregung bebten meine Hände und ich steckte das Handy schnell zurück. Ich konnte nichts für meine Mutter tun. Ich wollte nichts für sie tun. Damals hatte sie nicht auf meiner Seite gestanden, hatte nicht begriffen, wieso ich Sebastien den Rücken kehren wollte. Alles, was sie verstand, hatte mit ihrer Verbitterung zu tun. Tränen schossen mir in die Augen, als mir klar wurde, dass ich mein Leben lang an ihnen gekettet sein würde und nichts mich befreien könnte.

Ich flüchtete eilig zu den Toiletten. Ein leichenblasses Gesicht sah mir im Spiegel entgegen, stach grell hervor und konnte das Leid dahinter nicht verbergen. Erinnerungen durchfluteten mich und schürften mein Herz auf.

Er liebt dich, Océane, mehr als alles andere auf der Welt. Wieso möchtest du ihn so einfach aufgeben? Ist es ihm gegenüber nicht ungerecht, ihn wegzuwerfen wie Unrat?"

Ich starre meine Mutter mit verweinten Augen an. „Er hatte was mit einer anderen. Wie soll ich so etwas entschuldigen?"

Ihre Hand durchpflügt die Luft und klatscht brennend auf meine Wange. „Du ungezogenes Mädchen! Sei froh, dass dich Balg überhaupt ein Junge beachtet. Körper sind nichts wert, also sei nicht so arrogant und akzeptiere, dass er sich den Spaß erlaubt."

Ich ducke mich unter ihren Schlägen, in denen so viel Liebe und Schmerz zugleich liegen. Ich weiß, dass sie es nicht meinetwegen tut, dass sie im tiefsten Kern ihres Wesens nicht mir ein Leids will, sondern meinem Vater. Immer meinem Vater. „Sebastien tut mir genau so weh, wie Papa dir wehgetan hat", flüstere ich, obwohl ich weiß, dass es die Sache schlimmer machen wird. Trotz allem ist Hoffnung in mir, erfüllt mich und nährt die Liebe zu meiner Mutter. Eine hoffnungslose Hoffnung, die alle meine Gefühle verrät, sodass ich am Ende ein Nichts bin und ein Nichts bleiben werde.

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