29 - Gesellschaftstauglich

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Lennox hat anscheinend beschlossen, dass nasse und fleckige Schuhe ihm egal sein können.
   Er legt mir meine Everflame-Ausgabe zurück aufs Bücherregal.
   "Ich hatte etwas länger als beabsichtigt, aber das ist wirklich toll, hast du die Fortsetzung davon?", fragt er.
   "Nicht dabei", sage ich.
   "Schade... Kann ich mir dann was anderes nehmen? Bekommst du auch morgen zurück."
   Ich nicke. Seit ich hier bin habe ich sowieso nichts gelesen. Es erinnert mich alles zu sehr an zuhause.
   Lennox hat sich ein anderes Buch aus dem Regal genommen und den Klappentext durchgelesen. Es dauert eine Weile, bis ich sehe, was es ist.
   "Kennst du 'Tom Sawyer und Huckleberry Finn' etwa nicht?", frage ich verdutzt.
   Lennox schüttelt den Kopf. "Ich habe als Kind kaum Bücher gehabt und jetzt wo ich sie mir selbst besorgen kann, habe ich keine Lust auf so alte Bücher." Er will es schon zurück legen.
   Rasch springe ich auf und drücke ihm das Buch zurück in die Finger. "Ich bestehe darauf!" Eindringlich starre ich ihn an.
   "Etwas Anderes leihe ich dir erst, wenn du dieses hier gelesen hast!"
   Mit einem Seufzer nimmt Lennox das Buch wieder an sich.
   "Na schön."
   In Gedanken versunken starre ich auf das Buch.
   "Manchmal fühle ich mich wie Tom Sawyer in der Höhle."
Lennox antwortet nicht. Aber das muss er auch nicht. Das wird er mir noch früh genug.
   An meiner Zimmertür wird erneut geklopft.
   Ich antworte schon wieder nicht, aber ich habe ja Lennox. Mit einem raschen Blick auf mich öffnet er die Tür und ich sehe Marek.
   "Da seid ihr ja!", sagte er. "Ihr müsst jetzt noch etwas Essen, ihr habt beide Besprechungen später."
   Skeptisch verstecke ich mich hinter Lennox. "Besprechungen?", frage ich über seine Schulter hinweg.
   "Du kannst auch Therapie sagen, wenn dir das lieber ist", grinst Marek. "Wir wollen dich ja auch wieder gesund pflegen."
   "Nicht gesund. Gesellschaftstauglich, mehr wollt ihr nicht", murrte Lennox. Ich verstehe es nicht ganz, aber Marek anscheinend schon.
   "Lennox! Das ist nicht wahr, erzähl nicht so einen Quatsch!" Empört verschränkt er die Arme.
   "Nenn es ruhig Quatsch, ich hab schon verstanden wie es läuft." Er dreht sich zu mir um und greift mein Handgelenk. "Komm Kim, wir gehen etwas essen."
   Er zieht mich an Marek vorbei auf den Gang und ich stolpere ihm nach.
   Das Buch ist in meinem Zimmer vergessen gegangen. Aber das ist mir gerade egal, meine Gedanken haben sowieso angefangen, sich im Kreis zu drehen.
   Was er gesagt hat lässt mich nicht los.
   Gesellschaftstauglich.

Leise ApfelblütenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt