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Trotz der eisigen Temperaturen schwitzte ich bereits. Mit hochroten Wangen wanderten wir die letzte Steigung des Bergs hinauf. Nur um am nächsten Tag wieder ins dahinterliegende Tal hinabzusteigen.

Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder doch lieber weinen sollte. Einerseits war die Aussicht ja wirklich fantastisch. Und ich würde nach dieser einen Woche die Alpen überquert haben, wer konnte das schon von sich behaupten? Zusätzlich hatte ich eine ganze Menge spitzen Fotos geschossen und es würden noch viele weitere folgen.

Meine 43.000 Follower auf Instagram werden sie lieben, das wusste ich jetzt schon. Wegen ihnen hatte ich ja dieses Abenteuer gewagt. Im Internet durfte man nicht langweilig sein. Jeden Tag ein Foto vom Frühstück oder von seinem Gesicht zu posten reichte schon lange nicht mehr aus. Das wusste ich natürlich, deshalb sparte ich jeden Cent, um möglichst viel unternehmen zu können. In diesem Frühling war es eine Wüstentour mit dem Bus in Marokko gewesen. Vor drei ein halb Monaten, im Oktober, hatte ich einen Fallschirmsprung aus 4000 Metern gewagt und jetzt, Anfang Januar, überquerte ich mit einem Guide und seiner Truppe die Alpen. Natürlich immer bewaffnet mit meiner Kamera.

Ich hatte für diesen Ausflug auch extra trainiert. Wochenlang war ich jeden zweiten Tag gejoggt und war auch hin und wieder mit Jessy im Fitnessstudio gewesen.

Trotzdem ging ich hier bald an meine Grenzen. Jeder Schritt viel mir schwer, das Atmen tat weh. Ein weiches Bett, dazu noch eine Wärmflasche, eine Tafel Schokolade (die mit ganzen Nüssen) und noch Netflix. Das wärs. Vielleicht drei Folgen Haus des Geldes anschauen. Oder auch vier.

Juna, reiß dich zusammen! Ich schüttelte meine Gedanken ab. Ich mache das hier schließlich freiwillig. Niemand zwingt mich dazu! Oder vielleicht doch? Wollten nicht meine Internetfans endlich wieder eine neue Story, an der sie sich ihre Mäuler wund reden können?
Ach, Bullshit. Ich wollte es so und damit basta!

„Hey, Phillip! Wie weit ist es noch bis zur nächsten Hütte?", rief ich nach vorn. Bevor er jedoch eine Antwort geben konnte, kam eine fröhliche Frauenstimme von hinten: „Mach doch deine Augen auf. Da vorn ist es doch."

Und tatsächlich. Dort war die kleine Herberge. Ein Jagdhaus, nicht einmal einen Kilometer entfernt. Ich hatte bloß auf meine eigenen Füße geschaut und nichts mitbekommen.

„Klasse!", stieß ich hervor und bekam einen neuen Energieschub. Auch in meinen Mitstreitern regte sich etwas. Zügig schritten wir voran und bald darauf standen wir vor der hölzernen Eingangstür.
Ein Hirschschädel mitsamt Geweih blickte mich darüber aus den toten Löchern, in denen einmal seine Augen gesessen haben mussten, an. Wütend und auch irgendwie anklagend.
Ein einzelner Käfer krabbelte gerade aus dem Totenschädel durch das Auge heraus.

Ich wich einen Schritt zurück und blinzelte ein paar mal, um diesen Anblick aus meinem Gedächtnis zu löschen.
Ich ekelte mich vor dieser Art, Tiere zur Schau zu stellen. 

„Daran wirst du dich hier oben gewöhnen müssen", meinte Phillip, der mein Unbehagen richtig gedeutet hatte. „In diesen Almhütten gibt es fast immer irgend welche ausgestopften Tiere oder Geweihe. Vielleicht auch Wolpertinger."
„Was für Dinger?", fragte ich und verzog das Gesicht. „-tinger! Wolpertinger", verbesserte mich unser Gruppenführer. „Das sind immer nur Teile von Tieren, die man zu einem neuen Tier, sozusagen ein Fabelwesen, zusammenfügt."

„Schließ heut Nacht besser dein Zimmer ab, sonst kommt noch ein toter Hase mit Entenflügeln und Wildschweinhauern um die Ecke geschlichen!", riet mir Noel und er und Phillip lachten schallend.
„Das ist nicht witzig!", fauchte ich. Noel blieb ein Arsch. Trotzdem schüttelte mich die Vorstellung an dieses Mischwesen so sehr, dass ich im Stillen beschloss, sicherheitshalber die Tür wirklich zu verschließen.

Gefangen im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt