Mein Atem ging stoßweise.
Die neue Brille, die mir meine Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten, beschlug bei jedem Atemzug. Wie sehr ich das hasste.Halb blind versuchte ich, etwas durch diesen milchigen Nebel auf dem Glas zu erkennen. Vor mir wackelte ein monströses Ding von einem Rucksack den Hang hinauf. Von seinem Besitzer, Phillip, dem Tourguide, konnte man nur noch die Füße erahnen.
Munter stieg er den Berg hinauf. Gerade pfiff er eine mir unbekannte Melodie vor sich hin. Mann, der hatte eine Ausdauer!Liebend gern würde ich eine Pause einlegen, doch ich befürchtete schon zusammen zu klappen, wenn ich nur den Mund aufmachte.
Außerdem waren wir gerade einmal knapp zwei Stunden unterwegs. Der Tourguide, die anderen fünf Schneeschuhwanderer und ich.Mit Bedacht setzte ich meinen Fuß in den bereits vorgegebenen Abdruck meines Vordermannes.
Die Riemen meines eigenen Rucksacks schnitten mir in die schon schmerzende Haut, trotz des dicken Pullis und der noch dickeren Winterjacke. Bestimmt würden die roten Streifen auf meinen Schultern nach dieser Woche für immer eingraviert bleiben. Leise stöhnte ich auf.„Alles okay?", kam es von hinten. Das laute Schnaufen hörte ich schon, bevor ich ihn sah. Schnellen Schrittes holte der junge Mann auf und ging nun neben mir her. „Ja, sicher", murmelte ich. Ich würde hier nicht das Weichei raushängen lassen, so viel stand fest. Mühsam stapfte ich neben ihm her. Wie hieß er noch gleich? Noah? Neo? Oder vielleicht doch Theodor?
Ich wusste es nicht mehr.Die Vorstellungsrunde war schon gestern Vormittag gewesen, vor unserem großen Aufbruch. Dann sind wir circa fünf Stunden gelaufen. Fünf Stunden!
Spätnachmittags hatten wir endlich die urige Hütte erreicht und sind gleich nach dem Essen hundemüde ins Bett gefallen. Heute morgen, als wir die Herberge verlassen hatten, dachte ich, dass meine Beine mich nicht mehr halten würden. Vom Muskelkater geplagt, wackelig und unter der tonnenschweren Last unseres Gepäcks, das uns am liebsten zurück ins Tal ziehen würde, schnauften wir weiter den Berg hinauf.
„Willst auch einen?", riss mich die Stimme meines Nebenmannes aus meinen Gedanken. Erschrocken blickte ich auf. Zuerst erkannte ich nicht, was er mir da hinhielt. Der strahlend weiße Schnee fraß sich in meine Netzhaut. „Bah, wie das blendet!", stieß ich hervor und kniff meine Augen zu winzigen Schlitzen zusammen.
„Danke, hab ich schon öfter gehört", entgegnet er fröhlich. „Was?", fragte ich verdutzt und blieb stehen. „Dass meine Schönheit andere blendet", erklärte der Typ selbstbewusst und grinste mich schief an. Wie vor den Kopf gestoßen starrte ich zurück und ignorierte immer noch den Schokoriegel in seiner Hand. Was für ein Arsch. „Doch nicht du, Idiot!", fügte ich noch hinzu und lief nun kopfschüttelnd mit ausladenden Schritten weiter.
Sein Lachen drang dann doch noch zu mir vor und blieb für lange Zeit in meinem inneren Ohr haften.
In meinen Gedanken hörte ich schon Jessys Worte: „Reiß dich zusammen, Süße! Wo er Recht hat, hat er Recht. Der Typ ist heiß! Und du bist eine ganze Woche mit ihm zusammen! Schnapp ihn dir!"
Ja, so in etwa würde meine WG-Mitbewohnerin wohl reagieren, wenn sie ihn sehen würde. Jessy steht auf Arschlöcher und Machos, eben diese Art von Mann. Aber sie war ja auch diese Art von Frau. Lange Beine, gertenschlank, wasserstoffblonde, hüftlange Haare, huskyblaue Augen. Hätte sie noch ein pinkes Auto, würde sie perfekt beim Barbie Girl Musikvideo mitmachen können.
Doch als Studentin hatte sie genauso wenig Geld wie ich und war froh, wenn sie sich zwischendurch mal den Bus leisten konnte. Außer sie hatte gerade wieder einmal einen Arschloch-Freund, der sie mit dem Auto zur Uni fuhr. Ich schmunzelte in mich hinein.Aber der Typ hatte blonde Haare. Eher nicht so mein Geschmack. Schwarze Haare und grüne Augen, das wärs.
„So, Leute! Machen wir eine Pause!", rief Phillip in die Runde und setzte schon seine Thermo-Trinkflasche an den Mund.
Ächzend und stöhnend ließen wir unsere Rucksäcke von den Schultern gleiten.
Während einige schon zu quatschen begannen, atmete ich noch ein paar mal tief ein und aus. Die eiskalte Luft strömte durch meine Lungen, aber das war mir gerade nicht unangenehm.Endlich konnte ich die Aussicht genießen.
Schnee, soweit das Auge reicht. Einzeln unterbrochen von großen Tannen, die mutig der Kälte trotzten und den spitzen Berggipfeln der Alpen. Die mächtigen Berge sind hier unsere ständigen Begleiter.
Eifrig schoss ich ein paar Fotos.
Eigentlich wollte ich sie sofort auf Instagram stellen. Dort war ich sehr aktiv und hatte auch viele Follower, denen ich die Aussicht nicht vorenthalten wollte. Jedoch hatte ich keinen Empfang. So ein Mist.Nicht einmal auf der Hütte, in der wir übernachtet haben, hatte es WLAN gegeben. Wenigstens einen winzigen Empfangsbalken könnte mein Handy mir doch schenken. Aber nein, nichts. Kein Netz.
Murrend packte ich mein IPhone wieder weg und widmete mich meinem Apfel.
Phillip und der Schönling unterhielten sich gerade. „Doch, doch. Ich habe ein Nottelefon dabei. Es ist ein altes Handy, das stammt von unserer Organisation und ist damit verbunden. Sollte sich jemand verletzen, kann ich sofort Hilfe rufen." „Gut", nickte der Typ erleichtert, dem wohl auch der fehlende Empfang aufgefallen war.„Außerdem muss ich jeden Morgen bei meiner Kollegin in Oberstdorf einen Kontrollanruf tätigen. Sollte also irgendetwas passieren und ich kann mich einen ganzen Tag lang nicht melden, schicken sie am darauffolgenden Tag den Rettungsheli los. Aber keine Bange, mit mir passiert euch hier nichts. Die Berge sind mein zweites Zuhause."
„Wie oft hast du die Alpen schon zu Fuß überquert?", wollte nun eine andere Frau, Magdalena war ihr Name, wissen. Phillip lachte. „Unzählige Male. Ich liebe die Berge und den Schnee. Man fühlt sich hier so unbedeutend klein in dieser unangetasteten Welt. Es ist immer wieder ein Erlebnis und ich freue mich, dass ihr dieses eine Mal dabei seid."
Er blickte in die Runde und lächelte uns an.
Ja, Phillip hatte recht. Die Gegend hier war klasse. Einmalig. Und ich durfte hier sein. Ich schickte ein kleines Küsschen gen Himmel, als Dankeschön an meine Instagram Follower, die mich auf diese Idee gebracht hatte.Ich hockte mich auf einen verschneiten Baumstamm, der aus dem Schnee ragte und ließ meinen Blick erneut schweifen. Bald entdeckte ich nicht all zu weit entfernt ein kleines Eichhörnchen, dass sich vom schneebedeckten Boden auf eine Tanne rettete.
„Na, Juna?" Oh, Mr Blender hatte sich meinen Namen gemerkt. Meine Augen fixierten jedoch weiterhin den Baum, obwohl ich das Eichhörnchen zwischen den dichten Ästen schon längst nicht mehr sehen konnte.
Was wollte dieser Typ von mir? „He, jetzt schmoll nicht!"
Widerwillig musste ich grinsen. Ich sah zu ihm hoch. „Ich schmolle nicht, ich genieße die Aussicht."
Er setzte sich neben mich. „Ja, die ist echt der Hammer", bestätigte er und sah mir in die Augen.Zumindest glaubte ich das, denn er hatte eine stark verdunkelte Sonnenbrille auf. Ohne zu registrieren, was er gerade gesagt hatte, starrte ich auf seine Brille. Mist, wie konnte ich nur meine Sonnenbrille vergessen. Die war natürlich ideal gegen den grell leuchtenden Schnee und die helle Sonne. Aber nein, meine Sonnenbrille lag natürlich gut geschützt und super unnütz im Brillenetui daheim in meinem Schrank.
„Ist was?", wollte er wissen. Das bisschen Haut, das noch zwischen der Brille und seiner schwarzen Mütze, unter der einzelne helle Haarsträhnen hervorschauten, zu sehen war, war braun gebrannt. Ein leichter Bartschatten umspielte sein Kinn.
Eins musste man ihm lassen: Schlecht sah er nun wirklich nicht aus, trotz der blonden Haare. Eine jüngere Ausgabe von dem Sänger Samu Haber kam mir in den Sinn.„Nein, nichts.", seufzte ich, „ich war nur nicht so schlau und habe leider meine Sonnenbrille vergessen." „Tja, das passiert den besten", grinste er. „Willst du meine mal ausleihen?" Ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche meine Sonnenbrille mit Stärke, sonst laufe ich mit deiner noch gegen einen Baum."
„Ja, das wäre natürlich fatal für meine tolle Sonnenbrille", neckte mich Mr Blender und ich schubste ihn dafür ein wenig.„Weiter geht's!", scheuchte uns Phillip auf. „Wir müssen noch ein gutes Stückchen laufen und ich habe keine Lust dies im Dunkeln zu tun!"
Mr Blender und ich blickten uns an und ich schnitt eine Grimasse.
Mühsam zog ich meinen eingesunkenen Fuß aus dem tiefen Schnee, dehnte mein eingerostetes Rückrat und setzte wieder einen Fuß vor den anderen.„Wie heißt du eigentlich? Ich kann mir Namen nicht gut merken und hab deinen schon wieder vergessen. Und ich kann dich ja nicht auf ewig Mr Blender nennen", gestand ich ihm grinsend. „Mr Blender? Das wäre schon ok", lachte er und sagte dann: „Noel."
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Gefangen im Schnee
Novela JuvenilTeil 1 - A B G E S C H L O S S E N „Hey!", rief Noel von hinten. Wir drehten uns zu ihm um. „Denkt ihr, dass.." Klatsch! Noels Mütze, Gesicht und Schultern waren komplett weiß. Eine riesige Ladung Schnee war von der Tanne über ihm gerutscht und auf...