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Stumm wie Fische liefen wir nebeneinander her.

Jedoch brodelte es unter meinem Schädeldach immer noch gewaltig und sobald er den Mund aufmachen würde, um einen winzigen stinkenden Piep von sich zu geben, werde ich explodieren.

Dann konnte sich Mr Überhaupt-Nicht-Blender auf etwas gefasst machen.

Lag ihm denn nichts an dem Leben anderer? War ihm das etwa alles egal?
Wie konnte man nur so herzlos sein?

Was er wohl als Beruf machte? Bestimmt Schlachter, riet ich grimmig. Tierkadaververwerter. Oder Anwalt, die waren doch genauso gefühlskalt. Nein, für einen Anwalt brauchte man einen guten Abschluss. Den hatte der Hohlkopf sicher nicht.

Ich linste zu ihm hinüber. Wie gern würde ich ihm das alles an den Kopf werfen und meiner Wut freien Lauf lassen. Doch wie so oft fand auch dieses in Gedanken geübte Gespräch nicht statt. Noel musste ahnen, was in mir vorging und sagte nichts. Oder es war ihm vollkommen egal, was mit mir los war.

Mit wachsamen Augen, die die Gegend absuchten, schritt Noel voran. Er gab die Richtung an und ich trottete nebenher. Mir war es inzwischen gleichgültig, ob wir eine Herberge fanden. Eigentlich war mir gerade so ziemlich alles egal.
Meine nasskalten Klamotten scheuerten bei jedem Schritt aneinander. Ich zitterte vor Kälte und mit jedem Meter, den wir vorankamen, wurde ich schwächer. Einzig und allein der Gedanke, dass mich Noel vermutlich tragen würde, sobald ich mich auf den Boden gesetzt hatte, hielt mich davon ab, es in die Wirklichkeit umzusetzen.

Mein Magen meldete sich und zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und die Nahrung, die ich zu mir genommen hatte, lag nun leider neben Magdalenas Grab. Warum nur hatte ich diesen verdammten Rucksack ausgezogen? Ich dachte an die Tafel Schokolade, die darin zwischen dem Knäckebrot und den Wienern steckte. Das Wasser lief mir im Mund zusammen.

Noel hatte seinen Rucksack noch. Was er wohl zu Essen dabei hatte?
Ich würde mich hüten, ihn danach zu fragen.

Beschämt kam mir meine verschollene Gruppe ins Gedächtnis. Ich machte mir hier Sorgen um meinen leeren Magen, während die anderen entweder tot waren oder noch ums Überleben kämpften.
Wie grausam der Mensch doch sein konnte.
Wenn wir irgendwann herausfinden sollten, dass noch jemand die Lawine überlebt hatte und nun einsam umherwanderte, bringe ich Noel um!

Meine Beine schlotterten. Mit aller Kraft wehrten sie sich, mein Gewicht weiterhin tragen zu müssen. Wenn wir nicht bald eine Pause einlegten, würde ich vermutlich zusammenbrechen. Ich kämpfte mit mir. Jeder Schritt war eine Qual. Eigentlich wollte ich das Schweigen nicht brechen, doch ich hatte keine Wahl.

„Noel?", keuchte ich endlich.
Er grunzte nur. Das galt wohl als Zeichen, dass er mich verstanden hatte.
„Ich kann nicht mehr", gab ich leise zu. „Können... können wir eine Pause machen?"
Noel blickte zum Himmel, es wurde bereits dunkel. „Muss das sein?", knurrte er leise.
„Bitte. Morgen finden wir eine Hütte.", flehte ich fast. Mir schien ein Schluck Wasser, ein wenig Nahrung und ein bisschen Schlaf gerade überlebenswichtig. Ich war am Ende.

Er blieb stehen und drehte sich einmal um sich selbst. Sein Blick blieb auf einem kleinen Wäldchen haften.
„Komm", meinte er nur, änderte die Richtung und lief schnurstracks auf die Bäume zu. Ich war zwar immer noch wütend auf ihn und leiden konnte ich Noel auch nicht, doch in diesem Moment war ich ihm dankbar.

Mit stolpernden Schritten setzte auch ich mich wieder in Bewegung. Als ich zwischen den Tannen ankam, hatte sich Noel bereits an die Arbeit gemacht. Mit einigen kräftigen Fußtritten schlug er junge Bäumchen heraus.

Als ich ihm mit zitternden Händen helfen wollte, meinte er nur kurz angebunden: „Passt schon, kümmere du dich um das Essen."
Ich nickte und wankte zu seinem Rucksack, den er achtlos gegen einen Baum gelehnt hatte.
Mit bebenden Fingern nestelte ich an dem Reißverschluss herum, bis ich ihn endlich geöffnet hatte.
Ein lautes Knacken verriet mir, dass erneut ein kleiner Baum Noels Fuß zum Opfer gefallen war.

Schnell überflog ich den Inhalt in seinem Rucksack. Ganz oben lag eine Jogginghose und ein frischer Pulli.
Ich wühlte mich weiter nach unten.
Endlich ertasteten meine Finger eine Brotzeitdose und gleich daneben einen Karton. Ich zog beides hervor und öffnete die Dose vorsichtig.
Eine halbe Hartwurst lag darin und ein kleines, jedoch volles Glas mit Gewürzgurken.
Der offene Karton stellte sich als Energieriegelvorrat heraus. So einen hatte er mir gestern unter die Nase gehoben, erinnerte ich mich.

In der Seitentasche des Rucksacks steckte eine noch halb volle 1,5 Liter Flasche. Ich zog sie heraus und lief mit meiner Beute wieder zu Noel.

Er hatte in der Zwischenzeit ein improvisiertes Tipizelt aus Bäumen gebaut. Gerade drückte er den Schnee im Inneren an dem Rand unseres Unterschlupfs fest.

„Cool", meinte ich und lächelte das erste mal seit Stunden. Noel krabbelte aus der kleinen Öffnung. „Danke", meinte er aufrichtig. „Geh schon rein, ich schau mal was sich als Decke finden lässt."

Mit allen Vieren auf dem Boden, das Essen unter die linke Achsel geklemmt, schob ich mich ins Innere.

Hier war es genauso eng, wie es von außen aussah. Jedoch schützten die vielen Zweige ein wenig vor Schnee und Wind.

Noel streckte seinen Kopf durch die Öffnung. Kurz darauf folgte sein ganzer Körper und der Rucksack.
Ohne viele Worte zu wechseln, machten wir uns hungrig über die Wurst und die Gurken her. Es war eine karge Mahlzeit, ohne Brot und ohne sonstigen Luxus, doch das war uns gerade egal.

Als Nachtisch gab es für jeden einen Müsliriegel. Langsam und mit Bedacht biss ich winzige Stücke ab und kaute andächtig.
„Wenn du nicht krank werden willst, empfehle ich dir, deine Sachen auszuziehen und etwas von meinen trockenen überzuziehen." Noel hielt mir die Jogginghose und den Pulli hin, den ich vorher im Rucksack entdeckt hatte.

„Ähm...", ich stockte. Es war mir unangenehm, mich vor ihm auszuziehen. Und genauso unangenehm war es, sich hier wie ein kleines Mädchen zu benehmen.
„Mach schon, ich schau auch weg." Noel lachte.
„Idiot", sagte ich und riss ihm die Klamotten aus den Händen.
Doch dieses Lachen ging mir durch und durch.

Noel drehte sich demonstrativ grinsend zur Seite und begutachtete starr unsere lückenhafte Zeltwand.
So schnell ich konnte, zog ich meine klammen Skiklamotten aus. Bibbernd vor Kälte zog ich mir seinen Pulli und die Hose über. Alles war bestimmt vier Nummern zu groß, doch es wurde augenblicklich wärmer.
„Fertig", meinte ich nur und Noel drehte sich wieder zu mir um. Er pfiff durch die Zähne. „Schick, schick", er grinste mir vorsichtig zu. Vermutlich hatte er noch immer Angst, ich könnte explodieren.

Aber dafür war ich heute zu müde.

„Ja, total. So würde ich jede Modenschau gewinnen", feixte ich deswegen nur.

Auch Noel zog sich um, nur ohne Vorwarnung. Schnell drehte ich meinen Kopf zur Seite, als er seine Hose auszog und ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.
„Ach Juna, noch nie einen nackten Mann gesehen?"
Ich biss mir auf die Lippen und sah ihn weiterhin nicht an.
Das Geraschel dauerte noch etwa eine Minute, dann wurde es still. Vorsichtig wagte ich einen Blick zu ihm und stellte erleichtert fest, dass er vollständig angezogen auf dem Boden lag.

„Na dann, eine erholsame gute Nacht", wünschte er mir mit einem sarkastischen Unterton und drehte sich auf die Seite.
Auch ich kauerte mich zusammen, meine Knie berührten beinahe mein Kinn. Dann zog ich unbeholfen meine Skijacke als Decke über mich.

Trotz der Müdigkeit und meines schwachen Befindens, dauerte es noch lange, bis ich ein wenig Schlaf fand.
Es war eiskalt und ich zitterte am ganzen Körper.

Noel schlief bereits. Ich hörte ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Wenigstens schnarchte er nicht.

Ich umklammerte meine Beine und wog mich ein wenig hin und her. Konnte man trotz des kleinen Zeltes und der trockenen Klamotten erfrieren?

Gefangen im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt