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Das gleichmäßige Schaukeln verlieh mir ein Gefühl von Sicherheit. Normalerweise wäre ich zu tough, um es ihm erlauben zu können, mich zu tragen. Doch ich war zu schwach um diese Humpelei noch länger aushalten zu können.
Müde konnte ich mich in seinen starken Armen entspannen. Ich stellte mir vor, wie sich Noels Muskelfasern zusammenzogen und der Bizeps sich aufwölbte. Bei diesem Gedanken wurde mir heiß. Allgemein hatte ich das Gefühl, dass trotz der Minustemperaturen eine glühende Hitze von Noels Körper abgestrahlt wurde.

So unauffällig wie möglich legte ich meine Hand auf seine Brust und bildete mir ein, seinen Herzschlag zu spüren. Natürlich war das bei dieser dicken Jacke kaum möglich und doch wollte ich nicht, dass mein Gefühl sich täuschte.

Insgeheim bewunderte ich ihn. Er war ein wahrer Überlebenskünstler. Noel hatte bei der Lawine einen kühlen Kopf behalten.
Auch als Magdalena gestorben war, hatte er die einzig richtige Entscheidung getroffen und ihr ein improvisiertes Grab geschaffen. Dann hatte er nur aus Zweigen, kleinen Bäumchen und Schnee ein standhaftes Zelt gebaut. Und ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er mich aus dieser Gletscherspalte gezogen.

Ohne ihn wäre ich schon längst hoffnungslos verzweifelt und an meinen vielen Tränen vermutlich ertrunken.

Wie lange konnte er diese Stärke noch bewahren? Wann würde er zu Grunde gehen? Sowohl körperlich als auch geistig? Wann würde er schwach werden und seine Energie ihn verlassen?

Ich blickte zu ihm hoch und beobachtete ihn nachdenklich.
Sein markantes Kinn wurde von dem wachsenden Bart bald vollständig bedeckt. Trug er immer einen Bart oder nur hier in den Bergen, da er sich nicht rasieren konnte?
Dann erinnerte ich mich wieder an den ersten Tag, im Clubhaus der Alpinwelten. Dort hatte er auch einen Bart gehabt, auch wenn er ein wenig kürzer gewesen war. Eher ein Bartschatten.
Mein Blick wanderte an seinem Gesicht weiter nach oben.
Seine Augen wurden wieder einmal trotz des aufkommenden Nebels von der dunklen Sonnenbrille verdeckt.
Und die blonden Haare steckten wie immer unter der schwarzen Mütze.

So liefen wir, beziehungsweise Noel, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Eine ganze Weile lang war es ruhig.
Noels Schritte wurden mit der Zeit immer kürzer und sein Atem kam in kurzen lauten Stößen heraus.
Ich fühlte mich unendlich schuldig. Wegen mir musste er diese Qualen erleiden und nicht nur sich selbst und den Rucksack, sondern auch meine Wenigkeit durch den Schnee schleppen.
Eine Schweißperle bahnte sich ihren Weg von Noels Stirn über seine Wange.

Bereute er seine Entscheidung, mich zu tragen?
„Ich könnte versuchen, selbst ein paar Schritte zu laufen", bot ich kleinlaut an. „Nein", keuchte Noel stur, „ich schaffe das schon."
Mühsam stapfte er weiter. Helden hatten es eben schwer.

Langsam brach die Dunkelheit über uns herein. Würden wir heute erneut im Freien schlafen müssen?

Plötzlich durchfuhr seinen Körper ein Zucken und er blieb stocksteif stehen. Ängstlich sah ich zu ihm hoch und befürchtete schon, dass er jeden Moment zusammenbrach.
Doch sein Gesichtsausdruck verhieß etwas komplett anderes und mir klappte der Mund auf. „Was ist?"
Ohne mich zu beachten fixierte sein Blick etwas hinter mir und er murmelte mit einer Art Erregung: „Kann das...?"

Auf einmal lief er wieder los, viel schneller als zuvor. Erschrocken über seine Reaktion klammerte ich mich bei ihm fest und drehte meinen Kopf in die Richtung, in die er so verbissen stierte.

Dann sah auch ich es. Im grauen Nebel tauchte ein schwarzes Etwas auf, das sehr groß war und nach einer Minute den Umriss einer Hütte annahm.

„YES!", schrie Noel plötzlich und ich zuckte zusammen. Er würde wohl am liebsten einen Luftsprung machen und ich hoffte inständig, dass er es mit mir auf dem Arm bleiben ließ.
Doch ich ließ mich von seiner Freude anstecken und stieß meine Faust in die Luft. „Endlich!", jubelte ich erleichtert.

Gefangen im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt