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Ich weiß nicht, wie lange wir so da lagen.

Mein Puls hatte sich soweit wieder beruhigt und ich sah mich ein wenig im Liegen um. Etwa drei Meter entfernt stand eine Tanne, um deren Stamm Noel das Seil geschlungen hatte.

Deshalb hatte das andere Ende nicht so weit zu mir hinab gereicht. Aber wir hatten es trotzdem geschafft. Mein Schutzengel hatte mir erneut das Leben gerettet.
Ich stützte mich auf dem Ellenbogen auf und blickte zu ihm.

Noels warmer Atem bildete kleine Wölkchen, die sofort wieder verschwanden. Mit seinem Daumen zeichnete er gedankenverloren undefinierbare Bilder in den Schnee.
Mit einem Lächeln auf den Lippen beobachtete ich ihn dabei. Noel selbst hatte die Augen geschlossen und schien die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht zu genießen.

Ein plötzlicher Gedanke machte sich in meinem Gehirn breit und bevor ich Argumente sammeln konnte, es lieber bleiben zu lassen, zog ich schon so leise wie möglich mein Handy hervor.
Ohne dass Noel etwas davon mitbekam, lenkte ich die Kamera auf sein Gesicht und knipste ein Foto. Gleich darauf wurde der Bildschirm schwarz, doch das Bild war im Kasten. Grinsend steckte ich mein Smartphone wieder in die Jackentasche und legte mich erschöpft und glücklich neben ihn und sah in den nun bewölkten Himmel hinauf.

Zum ersten mal dachte ich nicht daran, dass wir gefangen waren. Ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber, wie lange wir mit der wenigen Nahrung auskommen würden und wann uns endlich jemand rettete.
Ich genoss die Stille und döste vor mich hin.

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn plötzlich rüttelte etwas energisch an meiner Schulter.
„Hmm...", grummelte ich verschlafen und wollte mich schon auf die andere Seite drehen. Ich war nicht einer von diesen nervenden Menschen, die aufwachten und sofort die Welt retten konnten. Mein Körper brauchte eine Erholungsphase vom Schlaf, wie ich es erst letztens Jessy verklickert hatte.

„Juna, auf geht's." Noels fröhliche Stimme drang an mein Ohr. „Wer rastet, der rostet."
Haha, sehr witzig. Ich rollte mit den Augen. Anscheinend war er so ein Stehaufmännchen. „Und wer rostet, kann liegenbleiben", murmelte ich. Jedoch stemmte ich mich ein wenig hoch, sodass ich sitzen konnte. Meine Winterklamotten waren vom Schnee total durchweicht und ich spürte die Kälte mehr, als mir lieb war.

„Hunger?", wollte er wissen. Ich gähnte und nickte. Die letzte Mahlzeit schien schon eine halbe Ewigkeit her zu sein. Noel rutschte ein wenig zu mir und streckte mir eine Hand voll Spaghetti entgegen. Ich lachte auf. „Rohe Nudeln? Nicht dein Ernst!" „Wenigstens habe ich noch etwas. Du musstest deinem Rucksack ja unbedingt die Freiheit schenken", witzelte er. Eigentlich war die Situation überhaupt nicht komisch. Wir wussten nicht, wie lange wir noch hier in den Bergen bleiben mussten und ob wir überhaupt gefunden werden würden.

Doch ich blieb bei dem witzigen Gespräch. Andernfalls konnte man es nicht überstehen. Man musste schreien vor Angst.
„Ich könnte auch eine Falle bauen", überlegte Noel. „Dann könnten wir uns schon bald an einem Hasenbraten satt essen." „Untersteh dich!", zischte ich angewidert.

Zum Glück ließ er es auch bleiben. Jedoch nicht, weil er auf mich hörte, sondern weil er vermutlich keine Ahnung hatte, wie man nur mit Hilfe von Schnee und ein paar Tannenzweigen eine funktionierende Falle bauen konnte.

Missmutig nahm ich meine Ration Nudeln entgegen und knabberte ein wenig daran. Auch Noel biss von fünf Spaghetti gleichzeitig ab und es krachte gewaltig in seinem Mund.
Hoffentlich überleben das unsere Zähne...

Nach diesem zugegeben nicht mal ansatzweise sättigenden Nachmittagssnack rumorte mein Magen stärker als zuvor. Und wenn ich hungrig war, hatte ich nicht gerade die beste Laune. Besser gesagt, ich wurde dann ziemlich ungenießbar. Noel zuliebe versuchte ich jedoch, es nicht an ihm herauszulassen.
Ich formte mir aus frischem Schnee einen kleinen Ball und leckte daran. Er schmolz auf der Zunge und so hatte ich immerhin eine Beschäftigung und gleichzeitig etwas zu trinken.

„Kommt mir das nur so vor oder wird die Umgebung langsam neblig?"
Ich blickte auf und musste feststellen, dass Noel Recht hatte. Die Tannen, nur etwa 50 Meter entfernt, verschwanden bereits im milchigen Dunst. „Scheiße!", entfuhr es mir. „Los, wir müssen weg von hier!" Noel war bereits aufgesprungen und griff nach dem Rucksack. Auch ich wollte mich aufrappeln. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen rechten Fuß.
Ein lauter Schrei entwich meinem Mund und ich sank wieder zu Boden. Shit, den hatte ich ja total vergessen!

„Mein Fuß...", ächzte ich und verzog das Gesicht. „Ich kann nicht laufen." Ich saß auf dem Schnee und blickte hilflos zu ihm hinauf. Schon war Noel bei mir und zog mich mit seinen kräftigen Händen nach oben. „Stütz dich an mir ab. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren, sonst verlaufen wir uns noch." Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute ich ihn an. Als ob wir noch wüssten, wo wir uns gerade befanden. Noel bemerkte meinen Blick und deutete ihn richtig. Er grinste: „Ja, du hast ja Recht. Aber ich laufe nur ungern im Nebel."

So ging es los. Ich schlang meinen rechten Arm um seinen Hals und er legte seinen linken Arm um meine Taille. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, wobei ich den rechten immer nur kurz aufsetzte und mich sehr an Noel stützte.
Wir kamen nur langsam voran. Mit einem verletzten Fuß und ohne Schneeschuhe war unser Vorhaben nicht gerade einfach.

Mein Atem ging pfeifend und mein rechter Arm begann zu zittern.

„Erzähl mal", fing Noel plötzlich an, „was sind denn deine Hobbies?"
Ich kapierte sofort, dass Noel nur versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln, sodass ich meine Schmerzen vergessen konnte. Bereitwillig machte ich mit. „Ich gehe gern Feiern", keuchte ich vor Anstrengung. „Mache hin und wieder Sport und reise für mein Leben gern."
„Das klingt doch gut", meinte er. „Und du?", wollte ich interessiert wissen. „Och, dies und das."
„Kannst du ein wenig konkreter werden?", fragte ich leicht genervt.

„Ich bin zufrieden mit einem guten Film und einem Glas Wein in der Hand." In Gedanken schüttelte ich den Kopf. Aus Noel war nichts Sinnvolles herauszukriegen. Doch leider reizte mich genau das.
Also drehte ich den Spieß um. „Bist du sportlich?" Noel nickte grinsend. „Und du bist so verliebt in die Berge und den Schnee, dass du dich ohne Begleitung für diese Wanderung angemeldet hast?", hakte ich weiter nach.
Erst sagte Noel nichts. Doch dann...
„Ich wollte alleine sein", murmelte er und ich hatte das Gefühl, dass ihn etwas beschäftigte. Sollte ich ihn danach fragen? Ich traute mich nicht.

Als ich gerade den Mund wieder öffnen wollte, sagte Noel: „Und jetzt ist Schluss mit der Fragerei. So langsam wie du vorankommst, brauchen wir noch eine Stunde, bis wir an dieser Tanne da vorn vorbei sind, kleines Humpelstilzchen."
Mit diesen Worten schlang er seinen rechten Arm unter meine Kniekehlen und den linken unter meinen Rücken, hob mich hoch und lief zügig voran.

Gefangen im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt