Und wieder liefen wir.
Meine Beine protestierten schon nach den ersten 500 Metern.Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich war freiwillig, freiwillig!, auf diese Wanderung gegangen. So eine schlechte Idee hatte ich nur damals gehabt, als ich betrunken gewesen war und davon überzeugt war, Joshua wollte etwas von mir. Jessy erinnerte mich gern daran und lachte mich heute noch damit aus, wie ich ihn im Club von hinten angefallen hatte und ihn küssen wollte. Aber hey, ich war betrunken.
Doch diesmal nicht. Ich war stocknüchtern und hatte mich allen Ernstes für diesen Höllentrip gemeldet.
Fünf Personen lagen unter dem Schnee! Eine davon zu 100 Prozent tot.
Was für eine verdammte Scheiße!Ich verfluchte in Gedanken die Menschen auf Instagram, die mir folgten und mich dazu überredet hatten. Falls ich sterben sollte, würden sie es wohl in der Zeitung lesen. Auf meiner Instagramseite würden sich Rest in Peace - Posts tümmeln und sie würden schreiben, wie sehr ich ihnen doch fehlen würde. Nach einigen Wochen wird sich die Nachrichtenflut wieder legen und in zwei, spätestens drei Monaten war ich bei ihnen kein Thema mehr. Schnee von gestern. Schnee, wie passend, dachte ich sarkastisch.
Warum hatte ich eigentlich mit Instagram angefangen? Dieser ganze oberflächliche Fame mit diesen oberflächlichen Leuten und den oberflächlichen Bildern, die eine Person nie darstellten, wie sie wirklich war. Sondern immer besser, hübscher und beliebter als die anderen.
Und ich gehörte zu ihnen. Hatte zu ihnen gehört. Ich will es nicht mehr!Das wahre Leben spielte eben doch offline statt.
Wer würde mich wirklich vermissen, falls ich sterben sollte?
Meine Familie? Meine Freunde?
Wer waren überhaupt meine engsten Freunde? Ich war mit vielen locker befreundet. Läster-Freunde, mit denen man Party machte. Keine Freunde, mit denen man auf der Couch lümmelte und über Liebeskummer weinte.Für diese Abende hatte ich Jessy. Wie sehr ich sie vermisste. Sorgte sie sich arg um mich? Ach nein, sie wusste ja gar nichts von der Lawine. Offiziell würden wir noch drei Tage unterwegs sein. In dieser Zeit vermisste uns niemand.
Wütend trat ich mit dem Schneeschuh gegen einen kleinen Fels. Das Plastik knirschte.
„Mach es noch kaputt, dann hast du es mir aber gezeigt.", spöttelte Noel.
Ich antwortete nicht. Noel und sein dummes Gequatsche ging mir gerade sowas von am Arsch vorbei. Ich wollte heim. Der Drang nach trockenen, warmen Klamotten und einer langen Umarmung von meinen Liebsten wurde langsam übermächtig.
„Weißt du eigentlich, wohin wir laufen? Oder mache ich mir hier völlig umsonst meine Füße wund?", murrte ich nach einigen stillen Minuten.
„Seh ich aus wie ein Stadtplan? Habe ich einen dabei? Nein, also spar dir die Frage", erwiderte Noel gereizt.„Ein Stadtplan würde dir hier in den Alpen auch nichts nützen!"
Ich wusste, er konnte nichts für all das. Er hatte die Lawine nicht heraufbeschworen und natürlich kannte er den Weg genauso wenig wie ich. Doch trotzdem tat es gut, meine Wut herauszulassen und er war der einzige, der dafür herhalten konnte.
„Und was machen wir dann? Nur dumm herumlaufen bringt auch nichts! Schon mal was von ‚Kräfte schonen' gehört?", patzte ich ihn weiter an.
Noel blieb stehen. Zum Streiten hatte er wohl keinen Nerv mehr. Mit ruhiger Stimme erklärte er: „Ich will eine Hütte finden. Dort kann man Feuer machen, sich aufwärmen und mal richtig durchschlafen.
Aber bitte, wenn du glaubst, du bist hier auf dem Schnee glücklich, dann setz dich hin und warte, bis ein Heli dich aufsammelt. Oder bis nachts ein Bär kommt. Ich verspreche dir, ich zwinge dich nicht wie beim letzten Mal, mit mir zu kommen."

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Gefangen im Schnee
Teen FictionTeil 1 - A B G E S C H L O S S E N „Hey!", rief Noel von hinten. Wir drehten uns zu ihm um. „Denkt ihr, dass.." Klatsch! Noels Mütze, Gesicht und Schultern waren komplett weiß. Eine riesige Ladung Schnee war von der Tanne über ihm gerutscht und auf...