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Noel und ich saßen stocksteif am Tisch und sahen uns in die weit aufgerissenen Augen. Bildete ich mir das nur ein oder wurde das Geräusch allmählich lauter?

Wie auf Kommando kam Leben in uns. Noel sprang wie von der Tarantel gestochen auf und hechtete zum Kamin, vor dem die Schuhe über Nacht getrocknet waren. Er machte sich keine Mühe, sie zuzuschnüren, sondern schlüpfte nur eilig hinein und preschte aus der Wohnstube hinaus.

Mein Herz beschleunigte seine Arbeit.
Was sollte ich tun? Nur herumzusitzen und zu warten kam für mich nicht in Frage. Eine Idee musste her. Plötzlich fühlte ich mich wie Wickie, diesen Wikingerjungen, bei dem ich früher nie wusste, ob er männlich oder weiblich war. Die Idee schoss mir durch den Kopf und auch ich trieb meine Füße zur Eile an. Mit meiner Hüfte knallte ich gegen den Tisch, mein Löffel landete klappernd auf dem Boden. Ich bemerkte es nicht einmal.

Adrenalin floss durch meinen Körper.
Ohne auf meinen verletzten Fuß zu achten, humpelte ich so schnell es nur möglich war in den Gang und weiter die steile Treppe hinauf. Mein Fuß schrie vor Schmerz und verlangte nach Ruhe, doch ich versuchte es zu ignorieren. Mit rasselndem Atem kam ich oben an und stieß die Tür zum Schlaflager auf. Die Tür knallte mit einem lauten Geräusch von der Wand ab.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, schmiss ich mich auf die Matratze und zog die rote Bettdecke zu mir heran. Mit fahrigen Fingern knüpfte ich die vielen Knöpfe auf und befreite den auffälligen Überzug von der schon vergilbten Decke. Meinen Schatz unter die Arme geklemmt, stürzte ich zum Fenster und riss es auf.

Kälte umhüllte mich und meine Haare wehten im Wind.
Tränen füllten meine Augen. Freudentränen. Glückstränen. Alles miteinander. Da war er!
In der Ferne sah ich den Hubschrauber. Er war noch über einen Kilometer entfernt, doch er flog tiefer als normal. So als würde er etwas suchen. Oder jemanden. Die Tannen in seiner direkten Nähe wurden von dem starken Wind, welcher durch die lauten Rotorblätter verursacht wurde, zur Seite gebogen.

„Hier her!", brüllte es von unten. Mein Blick huschte zu Noel. Er rannte im Schnee umher, hob die Arme und winkte energisch. „Hier sind wir! Hilfe! Kommt her!"
„Noel!", schrie ich, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Er fuhr herum und bemerkte mich kurz darauf hier oben am Fenster stehen. Ich stopfte den knallroten Stoff durch das Fenster und ließ es fallen. Fast schon unerträglich langsam segelte es nach unten.
Noel fing es auf und in seinem Gesicht leuchtete es. „Klasse Idee!", rief er, packte zwei Enden des Überzugs und rannte in Richtung des Helikopters. Die große Decke flatterte wie eine Fahne im Wind hinter ihm her. Rot auf weiß.
Ich schluckte und erneut schossen mir Tränen in die Augen. Magdalenas Blut hatte mich auf die Idee gebracht. Das Rot sah man von Weitem, es leuchtete beinah auf dem Schnee. Rot auf weiß. Blut auf Schnee. Ich schloss die Augen.
Das Blut tropft von ihrem zerfetzten Oberschenkel auf den Schnee. Krähen sitzen auf ihr, bohren den schon blutgetränkten Schnabel noch tiefer in das auskühlende Fleisch.
Mir wurde übel und ich versuchte, den Gedanken beiseite zu wischen. Noel rannte weiterhin auf unsere Retter zu, dabei schwenkte er den Überzug wie ein Torrero.
Ich riss meinen Blick endlich von dem roten Stoff los und zwang mich, erneut den Helikopter zu fixieren.

Noch schien er keine Anstalten zu machen, in unsere Richtung zu fliegen. Komm schon! Man konnte Noel mit dem auffälligen Tuch doch nicht übersehen. Na los, dreh dich zu uns!
In meinem inneren Auge sah ich ihn schon kehrt machen und zu seinem Landeplatz zurück fliegen. „Sie sind nicht mehr da. Sie müssen gestorben sein", würde der Pilot der Bergwacht den Polizisten erklären. Und meinen Eltern. Oh mein Gott, meine Eltern! Sie müssen erfahren, dass ich noch lebe!

Blut rauschte durch meine Adern und ich hob meine Arme, um durch das Fenster zu winken. „Los! Hierher!", brüllte nun auch ich. Ich schrie und ich kreischte. Bald wurde ich heiser und ich wusste, dass sie mich nicht hören konnten, doch ich konnte es nicht lassen.
Die Kälte kroch durch meinen Pulli, doch ich stand so unter Adrenalin, dass ich es kaum merkte.
Plötzlich ging ein Ruck durch die fliegende Maschine, die sonst eher im gleichmäßig langsamen Tempo die Landschaft abgesucht hatte.
Mit schlingernden Bewegungen drehte sich der Helikopter in unsere Richtung, sodass ich die von der Sonne blendende Scheibe des Cockpits sehen konnte.
Ich heulte und schrie vor Freude. „Hier sind wir!"
Meine Worte waren überflüssig. Sie hatten uns entdeckt. Oder vermutlich hatten sie das rote, sich bewegende Stück Stoff gesehen. Die Retter flogen schnurstracks auf Noel zu, der sich beeilte, zur Hütte zurückzukehren.
Sie kommen! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Die Anspannung viel komplett von mir ab. Am liebsten würde ich die ganze Welt umarmen.
Stattdessen schlug ich meine Hände vor das Gesicht und schluchzte zittrig auf. Die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten, sie flossen mir über die Wangen, während ich gleichzeitig lachte und weinte. Ich konnte nicht mehr klar denken. Die Erleichterung strömte durch den ganzen Körper, sie füllte jede noch so kleine Zelle aus. Sie ließ meine Finger erzittern, meinen Bauch kribbeln und sie machte jeden aufkommenden Gedanken zunichte. Meine Schultern zuckten kräftig, ich rutschte an der Wand hinab und saß nun heulend unter dem Fenster, das Gesicht immer noch von den Armen bedeckt. Es war vorbei. Die Hölle hatte endlich ein Ende gefunden.

Von da an ging alles rasend schnell. Oder vielleicht auch wie in Zeitlupe. Meine Gedanken und Gefühle fuhren Achterbahn, sie explodierten beinah in mir. Mein Hals brannte vom vielen Schreien, mein Kopf dröhnte.
Ich selbst jedoch saß auf dem Boden, starrte die gegenüber liegende Wand an, ohne sie wirklich zu sehen. Tränen liefen mir über das Gesicht, doch ich spürte sie kaum.
Ich würde meine Familie sehen. Ich konnte Jessy wieder in die Arme schließen. Ich hatte einen Freund gefunden.

Ich schluchzte laut und meine Hände krallten sich in meinen Pullover. Wir hatten es geschafft.

Die Tür öffnete sich und Noel kam herein. Er sah mich auf dem Boden sitzen, lief langsam zu mir und hockte sich mit angestrengtem Gesichtsausdruck mir direkt gegenüber. Noel sah nicht gut aus. Er hatte verschwitzte Haare, seine Hände waren rot vor Kälte und seine Wangen glühten. Er atmete laut, ich konnte seine rissige Unterlippe zittern sehen. Nach all den Strapazen unserer Wanderung hatte ich ihn noch nie so fertig gesehen wie in diesem Moment.

Seine Augen, diesmal blutunterlaufen, wurden glasig. Und bevor ich etwas machen, geschweige denn sagen konnte, sah ich, wie sich eine Träne aus seinem Augenwinkel löste und über sein Gesicht rollte, bis sie in seinem Bart verschwand.

Noel weinte. Seine starke Hülle war gebrochen.
Geschockt starrte ich ihn an. Er war immer der antreibende Pol gewesen, den nichts unterkriegen konnte. Jetzt hockte er hier zusammengesunken vor mir und weinte vor Erschöpfung und Erleichterung.

Ich handelte intuitiv und rutschte etwas näher zu ihm heran und umarmte ihn fest. Auch er legte seine Arme um mich, sein ganzer Körper bebte.
„Es ist vorbei", flüsterte ich, gerührt von seinem gefühlvollen Ausbruch. Noel lachte zittrig auf und gab mir einen feuchten Kuss auf die Wange.

Die Tür öffnete sich erneut und wir beide lösten uns von der Umarmung. Ich jedoch nur widerwillig.

Der Rest geschah wie im Film.

Zwei oder drei Männer in orangen Sanitäteroutfits stürmten in das Zimmer, gefolgt von einem grimmig dreinschauenden Polizisten.

Ein Sanitäter half mir, mich auf die Matratze zu setzen. Dann legten sie mit ihrem Standardprogramm los. Wie emsige Bienen wuselten sie um mich und Noel herum, maßen den Blutdruck, leuchteten mit kleinen Stablampen in die Augen und dokumentierten eifrig die Ergebnisse.

Mir kam alles so Unwirklich vor. Das konnte doch unmöglich gerade geschehen!

Inmitten dieses Chaos versuchte der mir unsympathische Polizist uns zu befragen.
„Und wie lange seid ihr schon hier?", wollte er wissen, nachdem wir unsere Personalien genannt hatten.
„In dieser Hütte zwei Tage", gab Noel Auskunft, „Die Lawine ist drei Tage her."
Bloß drei Tage? Mir kam es eher vor wie ein ganzer Monat.
„Haben Sie die anderen gefunden? Gibt es Überlebende?", warf ich dazwischen und sah den Polizist bittend an an, während sich zwei Sanitäter meinem verletzten Fuß widmeten.
„Darüber darf ich derzeit keine Angaben machen", schnauzte er bloß und wollte schon die nächste Frage stellen. „Bitte!", flehte ich und beugte mich leicht zu ihm nach vorn.
„Junge Dame", begann er streng und ich verzog innerlich schon das Gesicht.
Wenn man mich so nannte, war es mit meiner Liebenswürdigkeit auch vorbei.
„Es handelt sich hierbei um ein schwerwiegendes Ereignis, es muss erst noch alles geprüft werden, bevor ich Ihnen eine Auskunft geben kann!"

Trotzig und traurig zugleich schob ich die Unterlippe vor und hielt mich so gut es ging aus der restlichen Befragung heraus.
Feinfühlig ging anders!

Nach ungefähr einer halben Stunde waren die Sanitäter sowie der Polizist fertig mit ihrer Arbeit. „Packt eure Sachen zusammen", meinte der Mann Ende 50 beinahe schon feierlich. „Es wird Zeit, dass ihr zu euren Familien zurückkehrt. Ich habe sie bereits verständigt."

Mein Herz machte einen Sprung. Es ging nach Hause!

Nach gerade einmal einer Minute hatte ich meine Sachen zusammengekratzt, da ich außer meinen Klamotten und meinem Handy nichts mehr besaß.
Ungeduldig wartete ich im Flur und wippte mit den Zehenspitzen und den Fersen auf und ab. Noel brauchte etwas länger.
Während wir auf ihn warteten, versuchte mich ein jüngerer Sanitäter in ein Gespräch zu verwickeln, doch ich war so aufgeregt auf die kommenden Stunden, dass ich ihm nicht wirklich zuhören konnte.

Endlich kam Noel mit seinem großen Wanderrucksack zu uns in den Flur.
„Also dann", meinte der Polizist und öffnete die Eingangstür, „Zeit, sich von eurem kurzweiligen Heim zu verabschieden."

Gefangen im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt