Eine halbe Ewigkeit beugte ich mich über Magdalenas kälter werdenden Körper. Tränen tropften von meiner Nasenspitze auf ihr schönes Gesicht. Vorsichtig tupfte ich sie weg. Nichts sollte sie jetzt noch beschmutzen.
Ich weinte stumm. Kein Laut kam mir über die Lippen.
Nachdem die letzte Träne getrocknet war, hob ich langsam ihren Kopf aus meinem Schoß und legte ihn sanft auf den Boden. Mühsam erhob ich mich. Meine Beine waren eingeschlafen und sie kribbelten schmerzhaft, doch ich beachtete sie nicht.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem Gesicht der Toten abwenden. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. So etwas wie eine Grabrede. Jedoch hatte ich keine Erfahrung mit Begräbnissen. Und außerdem wusste ich nicht, was ich hätte sagen sollen. Ich kannte Magdalena ja kaum.
Und so machte ich das einzige, was ich gut konnte. Ich sang.
Das wunderschöne Lied Amazing Grace schien mir passend und so erfüllte meine momentan etwas weinerliche Stimme für die nächsten zwei Minuten die Luft.Sogar die Krähen hatten aufgehört zu krächzen und lauschten.
Als das Lied zu Ende war, schloss ich den Mund und richtete meinen Blick gerade aus.Plötzlich berührte mich etwas an meiner Schulter.
Zu Tode erschrocken schrie ich auf und fuhr herum. Gleichzeitig schlug ich reflexartig mit voller Wucht zu.
„Noel!", rief ich entgeistert, als ich ihn erkannte. „Verdammt, Juna. Was sollte das?" Noel hielt beide Hände vor sein Kinn.„Was schleichst du dich hier auch so still und heimlich an?", blaffte ich ihn an. „Ich bin nunmal sehr schreckhaft."
Doch ich war nicht wütend. Natürlich nicht. Ich stürzte nach vorn und umarmte ihn stürmisch.
Er lebte. Und es ging ihm gut, das war die Hauptsache. Nun ja, bis auf sein Kinn vielleicht.„Zeig mal her", forderte ich ihn auf und wollte seine Hände wegziehen. Unwirsch schob er mich beiseite.
„Wir haben dringendere Probleme."Er lief um mich herum und näherte sich Magdalenas totem Körper.
Wie angewurzelt stand ich da.
Was macht er?Noel bückte sich und hob so viel Schnee auf wie er tragen konnte. Dann ließ er es auf Magdalena fallen.
Meine Starre löste sich. „Was tust du da?", rief ich wütend. Ich konnte es nicht ertragen, dass dieser Idiot ihren Körper zuschaufelte, als wäre sie nie hier gewesen.„Frag nicht so doof. Hilf mir lieber!"
Noels Stimme hatte einen genervten Tonfall angenommen.Er hatte schon die nächste Ladung Schnee auf seinen Armen. Ich rannte zu ihm und zog seine Hände auseinander. Der Schnee fiel zu Boden.
„Lass den Scheiß!", fuhr er mich an. „Und jetzt hilf mir oder willst du, dass sie die Raben fressen?" „Nein, natürlich nicht", murmelte ich betroffen. Ängstlich sah ich mich um. Noel hatte recht.
Über uns kreisten einige Vögel. Und auf dem Baum, der auf Magdalena gestürzt war, saßen auch bestimmt 5 Tiere und warteten.
Der Geruch nach frischem Blut musste sie angelockt haben.Noel und ich arbeiteten stumm.
Jede Hand voll Schnee, die ich über die Tote fallen ließ, tat mir in der Seele weh.Es tut mir leid, dachte ich im Stillen. Es tut mir leid, dass du keine ordentliche Beerdigung bekommst.
Aber falls wir hier aus diesen Bergen fliehen können, dann zeige ich der Bergwacht, wo sie dich finden können. Dann wirst auch du in Frieden ruhen können, das schwor ich mir.Nach etwa einer halben Stunde hatten wir so viel Schnee über sie gehäuft, dass weder sie noch das Blut zu sehen waren.
„Komm", meinte Noel leise und wollte sich schon umdrehen. „Warte ganz kurz", bat ich. Ich lief zu der Tanne und knickte zwei dünne Äste ab. Dann kniete ich mich vor Magdalenas improvisiertes Grab und legte die Äste so darauf, dass es ein Kreuz bildete.
„Gut", meinte ich leise und betrachtete mit grimmiger Miene mein Werk. „Gehen wir."
Seite an Seite entfernten wir uns von dem Grab.
„Gehen wir jetzt zu den anderen?", wollte ich wissen. Noel blieb stehen. Mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte, sah er mich an. „Juna, es gibt keine anderen mehr. Sie sind tot."Die Welt brach zusammen. Den Gedanken, den ich nie aussprechen wollte, weil er so fürchterlich war, kam einfach so über Noels Lippen. Dieser Gedanke, der alle Hoffnung zerstört.
Und nun stand er wie eine Mauer zwischen uns.„Tot? Bist du sicher? Ich meine...", ich stockte. Mit einem schwachen Blick sah ich in an.
„Als die Lawine kam, habe ich einen Unterschlupf gefunden. Ich dachte, du wärst hinter mir gewesen, doch als ich mich in der kleinen Höhle umdrehte, warst du nicht mehr da", begann er und auch in seinen Augen glitzerten Tränen.
„Als dann alles vorbei war, habe ich mich wieder freigeschaufelt und nach euch gesucht. Bestimmt eine Stunde lang. Ich dachte, alle seien tot. Doch dann habe ich dich singen gehört. Ich wollte dich nicht unterbrechen, deshalb bin ich leise von hinten zu dir gekommen.
Glaub mir, wenn die anderen noch leben würden, hätte ich sie gefunden."„Du hast keinen Beweis!", schrie ich ihn verzweifelt an und meine Stimme klang, als hätte ich einen üblen Schnupfen. „Ich lag auch unter dem Schnee! Aber ich habe überlebt!"
„Juna, es reicht! Wir gehen jetzt!", er packte mich am Ärmel und zog mich energisch mit sich.
„Aber wir müssen die anderen finden! Was, wenn sie noch leben?", flehte ich ihn an und riss mich los. Meine Stimme hatte wieder diesen verflucht weinerlichen Ton angenommen.
Wütend fuhr Noel zu mir herum und blickte gereizt zu mir hinab.
„Hör mir zu! Es ist schon nach drei Uhr nachmittags, in einer Stunde wird es dunkel. Ich habe keine Lust, hier draußen auf dieser ungeschützten Lichtung zu übernachten. Also entweder, du hältst jetzt deine Klappe und suchst mit mir einen Unterschlupf oder ich gehe allein und du suchst die anderen, bis du deine Hand vor Augen nicht mehr erkennst."In seinen Augen blitzte es vor Wut, doch ich funkelte nicht minder zornig zurück.
„Gib mir deine Stirnlampe!", verlangte ich plötzlich. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. „Was? Bist du verrückt?" Entgeistert sah er mich an. „Na los! Gib sie her und dann verschwinde. Ich suche meine Kameraden."
Mit einem ungläubigen Blick schüttelte Noel den Kopf. Dann murmelte er: „Wie oft soll ich dich eigentlich noch retten?!" Doch das sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir.
Denn bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er seine Arme um meinen Bauch geschlungen und warf mich mit einer Leichtigkeit über seine Schulter, als würde ich nicht mehr als eine Feder wiegen.„Sag mal, spinnst du?!", schrie ich ihn an und versuchte ihn mit meinen Füßen zu treten. Doch das schien ihn kaum zu beeindrucken. Er setzte einen Fuß vor den anderen, hielt mich in seinem Eisengriff und entfernte uns zwei von der Unglücksstelle.
Ich hing wie ein Zementsack über seinen Schultern. Mit aller Kraft bearbeitete ich mit meinen Fäusten jeden Zentimeter seines Rückens, den ich erreichen konnte.„Lass mich sofort runter!", brüllte ich hitzig.
Ohne Vorwarnung ließ er mich fallen. Dank des vielen Schnees landete ich weich, jedoch linderte das meinen Zorn nicht im geringsten. Im Gegenteil.„Du hast sie doch nicht mehr alle!", fauchte ich und fixierte ihn mit giftigem Blick.
Er sah mich einfach nur schweigend an.
Mit einer flüssigen Bewegung warf er sich wieder seinen Rucksack auf.
Dann reichte er mir seine Hand. „Na komm, wir müssen."Ohne seine Hand zu beachten, rappelte ich mich wieder hoch und lief mit einer fast kriegerischen Stimmung neben ihm her.
Warum musste gerade er überlebt haben?, dachte ich und wusste, dass diese Art zu Denken grauenhaft von mir war. Doch der Gedanke blieb an mir haften. Warum er? Und warum nicht jemand von den Netten?

DU LIEST GERADE
Gefangen im Schnee
Fiksi RemajaTeil 1 - A B G E S C H L O S S E N „Hey!", rief Noel von hinten. Wir drehten uns zu ihm um. „Denkt ihr, dass.." Klatsch! Noels Mütze, Gesicht und Schultern waren komplett weiß. Eine riesige Ladung Schnee war von der Tanne über ihm gerutscht und auf...