„Wir können nicht weiter, es schneit zu stark", sagte Phillip entschlossen.
Zu siebt standen wir aneinander gepresst in der engen Küche und schauten durch das kleine Fenster dem Schneesturm zu, der draußen seinem Namen alle Ehre machte.
Schneeflocken wurden wie kleine Geschosse von dem starken Wind umhergewirbelt und die Berge, die gestern in der Sonne so schön märchenhaft mit Schnee bepudert waren, ragten nun massiv, schwarz und bedrohlich in den grauen Himmel hinauf.„Aber unser Zeitplan!", erinnerte ihn Til. „Wir wollten doch in vier Tagen in Südtirol ankommen. Das schaffen wir nur, wenn wir jetzt wie geplant weiterziehen." „Scheiß auf diesen Plan! Dort draußen erkennst du nicht mal eine Hand vor Augen!", rief Phillip hitzig. „Genau!", schlug sich nun Noel auf Phillips Seite. „Wir werden uns in diesem Chaos verlaufen. Dann kommen wir noch später an."
„Aber ich muss doch zur Arbeit", jammerte Louisa. „Ich hab nur noch fünf Tage frei. Vier Tage zum wandern und einen Tag für den Flug nach Hause. Wir haben doch unsere Tickets schon alle gekauft."
„Ich dachte der Wetterbericht hat die ganze Woche Sonne gemeldet?", warf nun John ein. „Da lag er wohl falsch. Oder siehst du hier irgendwo ein Fleckchen Licht?", pampte ich ihn an.
„Nun beruhigen wir uns erst mal", verlangte Phillip. „In den Bergen gibt es oft einen Wetterumschwung. Es kann sein, dass in einer Stunde alles vorbei ist. Lasst uns... lasst uns erst einmal Frühstücken, vielleicht ist die Welt danach schon wieder in Ordnung."Doch das war sie nicht.
Zwei Stunden später, es war bereits zehn Uhr, tobte der Sturm munter weiter. Louisa, Magdalena und ich hatten in einer Schublade Mensch, ärgere dich nicht gefunden und spielten ein paar Runden.
Währenddessen tigerte Phillip unruhig von einem Raum in den nächsten.
„Vielleicht erhofft er sich ja, dass in einem Fenster in einem anderen Raum das Wetter besser ist", kicherte Magdalena und wir drei wieherten los.Und tatsächlich, nach etwa einer halben Stunde stand Phillip vor uns. „Los Mädels, packt eure Sachen, wir brechen auf." „Trotz des Sturms?", fragte ich verdutzt. „Es stürmt nicht mehr. Es schneit nur noch und bald wird auch das vorbei sein."
Louisa und ich hechteten zum Fenster. Phillip hatte recht. Dicke Flocken schwebten langsam und geräuschlos zu Boden. Sogar die Sonne erkämpfte sich einen kleinen Platz zwischen den Wolken.
Die Aufbruchsstimmung weckte in uns allen gute Laune. „Auf, auf!", rief Til, der sich bereits die dicken Schuhe zuband, die über Nacht vor dem Kamin getrocknet waren.
Ich flitzte ins Bad, um meine Zahnbürste einzupacken. Doch im Türrahmen wäre ich fast mit jemand zusammen geknallt. Derjenige bekam mich gerade noch so an der Taille zu fassen und bremste mich.
„Hoppala! Nicht so stürmisch!", meinte er lächelnd.
Mein Gesicht war direkt vor seiner Brust, ich sah auf und blickte in Mr Blenders Gesicht. Grüne Augen. „Noel", stotterte ich und wich einen Schritt zurück. Wollte ich zumindest, doch da bemerkte ich, dass seine großen Hände immer noch meine Taille hielten.„Ähm, kannst du.. ich meine.. also eigentlich..", fing ich an. Was war los mit mir? Hallo, das war Mr arroganter Blender, schon vergessen? Außerdem hatte er blonde Haare. Was fange ich also hier an wie ein kleines Mädchen herumzustottern?
Ich befreite mich aus seinen Händen und schob mich an ihm vorbei. „Ich brauche nur noch meine Zahnbürste. Beeil dich, wir wollen los", sagte ich und stahl mich aus dem Badezimmer.
Die Schneeschuhe angeschnallt, den schweren Rucksack geschultert und die zwei Skistöcke in der Hand. So marschierten wir hintereinander im Gänsemarsch los.
Die Riemen des Rucksacks von Phillip schwangen mit seinen gleichmäßigen Bewegungen hin und her. Genau wie gestern. Und Vorgestern. Ich hatte wohl ein Déjà vue. Grinsend schlug ich es mir aus dem Kopf.Heute war der Muskelkater schon etwas besser als gestern. Zudem ging es jetzt das erste Mal bergab. Man könnte kilometerweit sehen, wenn es nicht schneien würde. Trotzdem holte ich meine Kamera hervor und knipste ein paar Bilder.
Kurzzeitig pfiff ich sogar ein paar Töne wie Phillip vor mich hin, aber diese Puste und Ausdauer hatte ich dann wohl doch nicht. Bald wurde ich wieder ruhig, stieg in die Fußabdrücke des Tourguides und hörte dem Gespräch hinter mir von Lou und ihrem Til zu.
Louisa beschwerte sich gerade über den vielen Neuschnee. „Man sinkt tiefer ein als gestern", meinte sie. „Ach, Schatz", an Tils Stimme konnte man sein Lächeln beinahe hören. „Wir haben doch Schneeschuhe an, so tief kann man da doch gar nicht einsinken."
„Trotzdem", beharrte Louisa stur und dann hörte ich erst mal nichts mehr. Ich stellte mir vor, wie Til den Kopf über seine junge Frau schüttelte.Heute morgen hat Lou mir erzählt, dass sie erst vor drei Monaten geheiratet hatten. Sie war mit ihren 25 Jahren sechs Jahre jünger als ihr Gatte, auch wenn man ihm das nicht ansah. Er sah immer noch aus wie ein zu groß gewachsener Schuljunge.
Da beide sehr sportlich waren, hatten sie sich für diese Alpenüberquerung als Flitterwochen entschieden.
„Als Flitterwochen?!", hatte ich ungläubig gefragt. Ich stellte mir unter Flitterwochen eher etwas luxuriöses am Strand vor. Und nicht in Eiseskälte von einem Plumpsklo zum nächsten zu wandern.
Aber jedem das seine, wie mein Vater immer sagte.John und Magdalena, der dürre Spargel und die stämmige Kleine, deren Ausdauer ich bewunderte, waren weder verheiratet noch zusammen. „Wir sind Freunde. Nur Freunde!", hatte sie noch einmal hinzugefügt, da sie meine erhobene Augenbraue entdeckt und richtig gedeutet hatte. „Wärst du gern mit ihm zusammen?", hatte ich neugierig wissen wollen, doch Magdalena schien auf einmal taub zu sein.
Warum war eigentlich Noel hier? Er war wie ich ohne Freunde mitgekommen. Einfach so. Jedoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass er auch auf gute Bilder aus war wie ich. Ich hatte ihn noch kein einziges Foto schießen sehen.
Ob er oft Touren alleine machte?
Sonst war das eigentlich nicht mein Ding, aber Jessy, die mitkommen wollte, war kurzfristig abgesprungen. Sie hatte sich den Fuß verdreht. Es war wirklich nicht ihre Schuld, doch trotzdem war ich anfangs sehr sauer auf sie gewesen, dass sie mich hier im Stich lässt.Aber so wie es jetzt lief, konnte ich mich nicht beklagen. Lou und Magdalena waren sehr nett, und Louisa und Til wohnten sogar in meiner Nähe.
Vielleicht könnten wir uns später einmal treffen. Ich war zwar mit meinen 23 Jahren das Küken unter uns, aber noch lange nicht so weit von den anderen Altersklassen entfernt.
Wie alt Phillip wohl war? Ihn konnte ich schlecht einschätzen. Höchstens 40, tippte ich. Eher 35.
Und Noel?Meine Gedanken wanderten zu dem Blonden, den ich überhaupt nicht einschätzen konnte und von dem ich eigentlich noch gar nichts außer seinem Namen wusste. Und das er große Hände hatte. Vielleicht spielte er ja Klavier oder Gitarre? War er überhaupt Deutscher?
Möglicherweise stammten seine Eltern ja aus Frankreich, jedoch hörte man bei ihm keinerlei Akzent.
Und seine grünen Augen. Die kannte ich jetzt auch. Ich versuchte sie mir wieder in Erinnerung zu rufen, aber dafür hatte ich sie zu kurz gesehen. Waren sie hellgrün? Oder eher dunkel wie ein Moor, das Unheil verkündend vor sich hin blubberte, um Unschuldige darin zu ertränken.Ich schüttelte den Kopf. Das alles waren nur Spekulationen, alles war schwammig und nichts war sicher. Ich musste aufhören mit diesen Gedanken.
Immerhin werde ich ihn nach vier Tagen nie wiedersehen. Da ist es besser, man lernte sich gar nicht erst richtig kennen.
Meine Stimmung floss dahin. Nie wieder war eine lange Zeit.Nach etwa weiteren 40 Minuten stummem Wandern vernahm ich ein Geräusch, das ich nicht zuordnen konnte. Ich sah auf und
ließ meinen Blick einmal über das vor uns liegende Tal und den dahinter aufragenden Berg schweifen, doch ich konnte nichts ungewöhnliches erkennen.„Hey!", rief Noel von hinten. Wir drehten uns alle zu ihm um. „Denkt ihr, dass..."
Klatsch.
Noels Mütze, Gesicht und Schultern waren komplett weiß. Eine riesige Ladung Schnee war von der Tanne über ihm gerutscht und auf ihm gelandet.
Wir lachten und Noel begann, uns mit Schneebällen zu bombardieren.
Ich verbog mich lachend, um dem Angriff zu entkommen, da sah ich es. Und mein Lachen gefror.Ganz oben auf dem Berg, den wir gerade hinabstiegen, hatte sich Schnee gelöst. Viel Schnee, der sich turmhoch aufbäumte und unbarmherzig auf uns herab donnerte.

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Gefangen im Schnee
Fiksi RemajaTeil 1 - A B G E S C H L O S S E N „Hey!", rief Noel von hinten. Wir drehten uns zu ihm um. „Denkt ihr, dass.." Klatsch! Noels Mütze, Gesicht und Schultern waren komplett weiß. Eine riesige Ladung Schnee war von der Tanne über ihm gerutscht und auf...