Sechzehn

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Ich trainierte die ganze nächste Woche jeden Vormittag. Es ging mir gut. Ich war schneller außer Atem und manchmal wurde mir schwindelig, aber ich wusste nicht, weshalb ich ein so striktes Tanzverbot hatte. Vermutlich übertreiben die Ärzte bei so etwas immer. Manche Menschen sind vielleicht wirklich nicht in der Lage, kurz nach der Chemotherapie Sport zu machen. Deshalb verbieten es die Ärzte grundsätzlich jedem. Um sich einfach abzusichern. Kayla schien das allerdings nicht so zu sehen. Kurz nachdem meine Eltern und Geschwister das Haus verlassen hatten, lief ich wieder in Trainingsklamotten und Spitzenschuhen die Treppe runter in den Keller, um zu trainieren, blieb aber kurz in der Küche stehen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Gerade als ich den Kühlschrank wieder schloss, klingelte mein Handy. Kayla.

Ohne schlimme Vorwarnung ging ich ran: „Hey, Kayla.".

„Hey, Sol!", ertönte es von der anderen Seite der Leitung.

„Warum bist du nicht in der Schule?".

„Ich habe einen Freiblock.", irgendwie klang ihre Stimme anders. So.... übertrieben nett „Was machst du denn gerade?". Eigenartige Frage.
„Ich ähm..." stotternd sah ich mich um. „ich frühstücke gerade.".

„Aha.", Kaylas Stimme klang forschend „Im Ballettanzug und mit Spitzenschuhen in der Hand?".

Erschrocken sprang ich einen Schritt zurück, um mich hinter unseren Küchenschrank zu verstecken.

„Solea Luna Montages! Du brauchst dich gar nicht hinterm Schrank zu verstecken!", rief sie sauer. Verdammt. Von ihrem Wohnzimmer aus konnte sie perfekt in unsere Küche schauen.

„Stalkst du mich etwa?!", rief ich entrüstet.

„Muss ich ja anscheinend!", erwiderte sie streng. „Du darfst nicht tanzen, das weißt du genau!".

„Aber du weißt auch genau, dass bald der Wettbewerb ist. Man, Kayla! Ich habe doch keine Wahl!". Ich versuchte gar nicht erst, mich rauszureden. Sie würde es mir eh nicht abkaufen.

„Was bringt es dir, wenn du jetzt übst und in zwei Wochen wieder im Krankenhaus bist?".

„Mir geht es gut. Wenn ich merke, dass ich nicht mehr kann, dann höre ich auf, versprochen.".

„Du weißt genau so gut wie ich, dass das nicht stimmt. Sol, ich weiß, wie wichtig dir dieser Wettbewerb ist. Aber ist er wirklich wichtiger als deine Gesundheit?".

„Ich will nicht, dass der Krebs mein Leben bestimmt. Ich will nicht, dass er die Kontrolle über mich hat und meine Träume zerstört.".

„Das weiß ich. Aber indem du tanzt, gibst du ihm die Kontrolle. Mit jedem Pliè und jeder Pirouette gibt du ihm ein weiteres Stück Macht.".

„Ich dachte wenigstens du würdest mich verstehen.", mit diesen Worten legte ich auf. Ich war nicht sauer auf Kalya. Und es tat mir leid, dass ich einfach aufgelegt habe. Aber ich konnte das nicht mehr hören. Entschlossen legte ich mein Handy zurück auf den Küchentresen und lief nach unten in den Keller.

Drei Wochen nach meiner Entlassung hatte ich meinen ersten Kontrolltermin im Krankenhaus. Der Arzt untersuchte mich, stellte mir ein paar Fragen und gab mir neue Medikamente. Es war alles in Ordnung, ich musste erst in drei Wochen wieder kommen.

Das „es ist alles in Ordnung" des Arztes war für mich wie eine Bestätigung, dass mir mein heimliches Tanzen nicht geschadet hat, und ein Grund für mich, noch mehr zu trainieren. Allerdings musste ich mich cleverer anstellen, da Kayla mich kontrollierte wie ein Spion. Ich trainierte in Jogginghose und Shirt und ließ den Fernseher im Wohnzimmer dauerhaft laufen, damit ich, wenn sie zwischendurch spontan bei mir klingelte, behaupten konnte, ich würde fernsehen. Sie war dennoch skeptisch und das konnte ich ihr auch nicht verübeln. Sie kannte mich einfach zu gut.

An manchen Tagen schrieb ich Zayn eine SMS, dass er nicht kommen brauchte, da ich jetzt schlafen würde, damit ich länger als sonst trainieren konnte. Und langsam aber sicher sah ich wieder erste Erfolge. Ich bekam meine Dehnbarkeit zurück und einen Großteil meiner Muskeln. Aber irgendetwas war anders. Ich tanze nicht mehr mit der Leidenschaft und der Freude wie damals, ich tanze... verbissen und voller Ehrgeiz. Ich gehe nicht voller Vorfreude in den Trainingsraum, sondern mit der Angst, nicht gut genug zu sein. Außerdem schaue ich öfter in den Spiegel als sonst. Früher legte ich mehr Wert darauf, wie sich das Tanzen anfühlte, jetzt achtete ich darauf, wie es aussah. 

Es war nicht mehr wie früher. 

Nichts war mehr wie früher. 

SunriseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt