Zwanzig

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Zayns Auftritt zeigte vollen Erfolg. Die ganze nächste Woche bekam ich lediglich zwei Duftkerzen, einen Teddybären und einmal die Frage, wie es mir geht, zu hören.

Allerdings hatte ich ein fruchtbar schlechtes Gewissen, weil Zayn sich meinetwegen bloßgestellt hat. Jedoch musste ich feststellen, dass er gar nicht so darunter litt wie erwartet. Seine Freunde feierten ihn für seine Aktion. Seinetwegen fiel Biologie aus. Die meisten vermuteten, dass es eine Mutprobe war oder dass er eine Wette verloren hatte, weshalb sie ihn für seinen Mut bewunderten. Er wurde auch damit aufgezogen, allerdings konnte Zayn selbst darüber lachen, weshalb sein Auftritt eher witzig als peinlich war. So war es nunmal, wenn man so beliebt war wie Zayn. Er wurde nicht ausgelacht, sondern gefeiert. Nur wenige versuchten ihn deswegen zu ärgern, indem sie überall in der Schule Fotos von ihm in seinem Barbie-Outfit aufhängten und sich in den Pausen die Videos von seiner Performance ansahen. Da aber die meisten auf seiner Seite standen, trug es Zayn mit Fassung. Seine Eltern und die Schulleitung jedoch nicht. Er entkam nur ganz knapp einer Suspendierung, wurde aber zu einer Woche Nachsitzen und einem Strafaufsatz verpflichtet.

Ich hatte die nächsten Wochen unglaublich viel zu tun. Ich war fast die ganze Zeit am Lernen, denn wie ich feststellen musste, hatte ich doch ziemlich viel Unterrichtsstoff verpasst. Dadurch hatte ich nicht einmal Zeit, heimlich in unserem Keller zu trainieren, denn wenn ich abends irgendwann mal fertig war mit meinen Schularbeiten, dann waren meine Eltern schon wieder zu Hause. Ich ging morgens zur Schule, kam nachmittags wieder, musste wie ein Kleinkind eine Stunde Mittagsschlaf machen und fing dann an zu lernen. Donnerstags hatte ich bereits um zwölf Schulschluss, daher war das mein Tag, an dem ich immer irgendetwas unternahm. Allerdings allein, denn sowohl Kayla als auch Zayn hatten länger Unterricht. Trotzdem genoss ich diesen Tag immer besonders. Ich ging spazieren, einkaufen oder ins Krankenhaus, um Anna und die Selbsthilfegruppe zu besuchen.

Außer heute. Heute hatte ich ein ganz anderes Ziel.

Meine Ballettschule.

Ich hätte es nie gedacht, aber ich vermisste Madame Rouge. Ich vermisste ihre missachtenden Blicke, ihre kritisierenden Worte und das bedrohliche Klopfen ihres Gehstocks. Und ich vermisste meinen Tanzsaal. Die Musik, den kalten Boden, die Ballettstangen und die verspiegelten Wände.

Ich öffnete den Haupteingang und wich zwei etwa zehnjährigen Mädchen aus, die mir glücklich entgegengerannt kamen. Wie ich das vermisst hatte. Die Ballettschule war nicht irgendein Tanzverein. Hier einen Platz zu bekommen, war ein Privileg. Du musst entweder ganz besonders gut sein, bereits als Kleinkind angenommen werden oder Beziehungen zu Lehrern oder Schülern haben. Einmal im Jahr gab es eine Aufnahmeprüfung. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie aufgeregt Kayla und ich waren, als wir die Prüfung mit elf Jahren bestanden haben und aufgenommen wurden. Ich lief in den Umkleideraum der Mädchen und strich über meinen Spind. Wie oft ich mich hier umgezogen und meine Sachen verstaut habe.... Ich verließ die Umkleide wieder und lief den Flur entlang. Die meisten Räume hatten große Glasfenster, damit man von dem Flur aus hineinsehen konnte. Ich blieb am ersten Raum kurz stehen und sah verträumt durch das Fenster in den Tanzsaal, indem gerade einer der  Anfänger-Klassen, bestehend aus etwa zwanzig zehn- bis dreizehnjährigen Jungen und Mädchen, tanzte. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an meinen ersten Unterricht in der Ballettschule....

„Herzlich willkommen zu eurer ersten Ballettstunde an unserer Tanzschule. Ich gratuliere euch allen zu eurer bestandenen Aufnahmeprüfung. Mein Name ist Miss Lavender und solange ihr in diesem Kurs seid, werde ich euch unterrichten. Diese Schule ist härter und zielstrebiger als die Vereine, in denen ihr bis jetzt getanzt habt. Es ist eine große Ehre für euch, dass ihr hier seid und ich möchte, dass ihr uns nicht enttäuscht. Viele von euch haben vielleicht den Wunsch, professionelle Balletttänzer zu werden, aber lasst euch sagen, dass ist ein weiter und steiler Weg bis dahin. Ihr müsst trainieren. Aber ihr werdet es schaffen, denn in jedem von euch steckt ein Tänzer oder eine Tänzerin. Wir beginnen mit ein paar einfachen Grundübungen. Los, an die Stangen!".

Aufgeregt nahm ich meine beste Freundin Kayla an die Hand und lief mit ihr zu einer der Ballettstangen. „Miss Lavendel ist ganz schön streng.", flüsterte Kayla und sah mich ängstlich an. „Ich weiß.", flüsterte ich zurück und griff mit der linken Hand nach der Ballettstange.

„Und Position eins, zwei, drei!", rief Miss Lavender und kam näher. Während sie immer mehr Anweisungen gab, kam sie zu jedem einzelnen Schüler und verbesserte seine Körperhaltung. Bis sie bei mir ankam: „Wie heißt du?".

„Solea Luna Montages.", antwortete ich schnell.

„Du kennst bereits alle Positionen und Schritte und deine Ausführung ist korrekt, allerdings etwas zu schnell. Verlangsame die Bewegungen, dann werden sie sauberer.".

„Okay.", ich nickte hastig.

„Und das da", sie griff nach einer meiner blonden Strähnen, die aus meinem Zopf gerutscht sind „will ich nie wieder sehen. Einen Pferdeschwanz kannst du in deiner Freizeit tragen, in meinem Unterricht werden die Haare zu einem Dutt gebunden.".

„Okay, Miss Lavender.", antwortete ich eingeschüchtert. Als die Lehrerin weg lief, drehte ich mit mit zerknirschtem Gesicht zu Kayla um: „Du hast recht. Sie ist ein Monster.".

Kayla kicherte: „Hauptsache wir können tanzen.".

„Das stimmt. Ist das nicht cool? Und Miss Lavender meinte, dass einige von uns Profitänzer werden können! Das ist mein größter Traum!", schwärmte ich.

„Kayla! Solea! Ruhe! Beim Tanzen drückt man seine Emotionen nicht mit Worten, sondern mit der Bewegung aus!", ermahnte und unsere Lehrerin.

Wir kicherten. „Ich möchte Tierärztin werden. Ich finde das Tanzen cool, aber ich liebe auch Tiere.", flüsterte Kayla.

Ich nickte. Tierärztin zu werden war schon immer der Traum meiner besten Freundin.

„Für mich gibt es nichts Schöneres als Tanzen. Ich werde es jeden Tag machen, bis ich Profitänzerin bin! Ich kann das schaffen und nichts kann mich aufhalten!".

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, die sich bei der Erinnerung an meine erste Tanzstunde einen Weg über meine Wangen gebannt hat. Ich kann das schaffen und nichts kann mich aufhalten! Damals war ich mir wirklich sicher, dass sich mir absolut nichts in den Weg stellen könnte. Aber damals, als elfjähriges, naives Mädchen, hätte ich auch niemals gedacht, dass ich jemals an Krebs erkranken würde. 

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