Drei Stunden später saß ich im Stuhlkreis zwischen den anderen aus der Selbsthilfegruppe. Zayn hatte mir angeboten, mit rein zu kommen, aber ich habe abgelehnt. Ich schaff das schon. Und hier bin ich ja nicht allein, also konnte er ruhig unten in der Cafeteria warten und sich solange etwas zu essen kaufen, denn wir haben das Frühstück ausfallen lassen, weil ich keinen Hunger hatte und er dann auch nichts gegessen hat.
Stephan betrat den Raum, sah uns alle mitleidig an und setzte sich auf den freien Stuhl. „Schön, dass ihr alle so kurzfristig Zeit gefunden habt. Der Grund, warum wir uns heute treffen, ist ein sehr trauriger. Wie einige von euch sicher schon mitbekommen haben, ist unsere Freundin Anna in dieser Nacht verstorben.".
Lilian und Ethan schnappten erschrocken nach Luft und sahen Stephan geschockt an. Sie wussten es offensichtlich noch nicht.
„Ganz egal, ob wir Anna schon seit Jahren kannten", er sah zu Devin „oder erst seit einigen Monaten.", dieses Mal sah er zu mir „Sie ist uns allen ans Herz gewachsen.".
„Das stimmt.", meldete sich Zarah zu Wort. „Es war... als hätte sie immer gute Laune. Egal wie schlecht es ihr ging, sie hat immer gestrahlt.".
„Sie war ein wahrer Sonnenschein.", stimmte Jason ihr zu „Und ihre Augen haben immer geglänzt.".
Ethan nickte: „Sie war immer für andere da. Sie hat die Bedürfnisse der anderen immer über ihre eigenen gestellt.".
„Wir kamen beide etwa gleichzeitig ins Krankenhaus.", erzählte Devin und begann zu lächeln „Wir bekamen unsere Diagnosen und starteten zeitgleich unsere erste Chemo. Wir rasierten unsere Haare, als sie ausfielen. Als mir mein Bein amputiert wurde, war sie die ganze Zeit bei mir. Vor der OP und danach. Anna war eine wirklich gute Freundin. Vielleicht die Beste, die ich je hatte.".
Ich brachte es nicht über mich, etwas zu sagen. Ich konnte jedem zustimmen. Alles, was sie über Anna sagten, war wahr. Aber ich konnte mich einfach nicht überwinden, auch nur ihren Namen auszusprechen, obwohl ich ebenfalls viele guten Dinge über sie sagen könnte. Doch es ging nicht. Und deshalb fühlte ich mich unendlich schwach.
„Annas Eltern haben eben mit mir gesprochen. Die Beerdigung wird am Samstag, also in drei Tagen stattfinden.", erklärte Stephan und reichte, so wie nach Connors Tod damals, eine Packung Taschentücher in die Runde.
„Anna war eine Kämpferin. Ich kenne niemanden, der nur annähernd so stark ist, wie sie es war.", schluchzte Lilian und schnäuzte in ihr Taschentuch.
„Das stimmt.", Zarah nahm ihr die Packung ab und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Sie war wirklich einzigartig.", flüsterte Devin und reichte mir die Taschentücherpackung. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Offensichtlich erwarteten sie, dass ich etwas sagte. Ich atmete tief ein und rang mit mir selbst, doch ich brachte es einfach nicht über mich. Seufzend atmete ich wieder aus. Stephan schien zu bemerken, dass es mir unangenehm war, denn er ergriff das Wort: „Die Zeit, die auf uns zukommt, wird eine sehr schwierige. Ich möchte, dass ihr alle wisst, dass jeder anders trauert. Es gibt keine Richtlinien und auch keine bestimmte Dauer. Nehmt euch die Zeit, die ihr benötigt. Und denkt immer daran. Anna ist zwar nicht mehr unter uns, aber sie bleibt immer bei uns. In unseren Herzen. Denn sie ist und bleibt ein Teil von uns.".
Zwanzig Minuten später war ich allein im Raum der Selbsthilfegruppe. Alle anderen sind gegangen und auch Stephan hatte noch etwas Wichtiges zu tun. Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden vor der Wand mit unseren Handabdrücken. Mein knallgelber Abdruck direkt neben dem etwas kleineren hellblauen Abdruck von Anna. Ich stand auf und legte meine Hand auf ihren Abdruck. Warum? Warum Anna? Womit hatte sie das verdient? Es war einfach nicht fair. Sie war viel zu jung, sie hatte doch noch ihr ganzes Leben vor sich. Und jetzt war es vorbei?! Ich ballte die Hand zur Faust und schlug wütend gegen die Wand, als ich daran dachte, dass ich sie nie wieder sehen würde. Nie wieder bis in die Nacht mit ihr reden. Sie nie wieder anrufen. Nie wieder gemeinsam irgendwelche Liebesschnulzen schauen, die ich hasste und sie liebte. Nie wieder von ihr aufgemuntert werden. Sie nie wieder strahlen sehen, wenn ich sie besuche. Nie wieder ihre Stimme hören. Ich schlug wieder gegen die Wand. Warum? Warum musste sie sterben?! Jetzt nahm ich die andere Faust dazu und hämmerte wie eine Irre gegen die Wand. Warum nur?! Warum?! Ich hörte schnelle Schritte und Rufe neben mir. Zwei Krankenschwestern kamen zu mir ins Zimmer gerannt und packten mich von hinten. Doch ich schlug weiter wie wild um mich und hämmerte mit den Fäusten gegen die Wand, als würde ich hoffen, dass ich dadurch aus diesem Albtraum erwachen würde.
„Beruhige dich!", rief eine der beiden Schwestern und zog mich ruckartig von der Wand weg. „Anita! Hol ein Beruhigungsmittel!", rief sie ihrer Kollegin zu, die daraufhin schnell wegrannte. „Nein!", schrie ich „Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!".
Was genau danach passierte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch an ein Piksen in meinem rechten Oberarm und an den Schwindel, der mich plötzlich überkam, bis ich in den Armen der Schwester zusammen brach und alles Schwarz wurde.
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Sunrise
Teen Fiction"Der Krebs sucht sich die Personen nicht aus. Es ist wie ein... Lostopf. Er zieht einfach einen Namen." Die siebzehnjährige Solea, von allen nur Sol genannt, führt ein perfektes Leben. Sie ist beliebt, erfolgreich und eine gute Tänzerin, weshalb si...