Dreiundzwanzig

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Emma und ich trainierten jeden Tag und ich musste sagen, dass sie enorme Fortschritte machte. Wenn wir so weiter machten, dann würde sie die Nachprüfung definitiv gewinnen. Und auch mir ging es durch das Training mit ihr besser. Ich war rund um die Uhr beschäftigt. Morgens ging ich zur Schule und von da aus direkt zur Ballettschule. Dort blieb ich bis abends, sodass ich im Grunde kaum noch Zeit hatte, über den Krebs oder meine Zukunft nachzudenken. Allerdings hatte ich auch weniger Zeit für alles andere. Für Kayla, Anna, meine Familie und Zayn. Besonders letzteres stellte sich als Problem heraus. Ich hatte ihn gestern schon versetzt und dafür versprochen, heute mit ihm ins Kino zu gehen, gleich nach dem Training mit Emma. Im Grunde hatte ich alles genauestens geplant. Ich hatte den Tanzsaal bis sechzehn Uhr gebucht und wollte siebzehn Uhr am Kino sein. Dann wurde jedoch die Tanzgruppe abgesagt, die nach uns den Saal gebucht hatte, wodurch Emma und ich beschlossen haben, den freien Raum noch ein paar Minuten zu nutzen. Nun ja, und so verlor ich die Zeit aus den Auge, sodass ich, als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, geschockt feststellen musste, dass ich bereits vor einer Stunde im Kino hätte sein müssen. So schnelle ich konnte verabschiedete ich mich von Emma und rannte zur Bushaltestelle. Ich hatte keine Ahnung, ob Zayn noch auf mich wartete, immerhin war ich über eine Stunde zu spät, aber ich fuhr trotzdem mit dem nächsten Bus zum Kino. Als ich ausstieg, schüttete es bereits wie aus Eimern, während ich fluchend auf die Leuchtreklamen des Kinogebäudes zu rannte. Zayn stand da, vor der Eingangstür an eine Säule gelehnt, wie ein ausgesetzter Welpe im Regen.

„Zayn!", rief ich völlig außer Atem, als ich bei ihm ankam. Mannomann, ich hatte lange keinen Sport mehr gemacht, ich war wirklich außer Form.

„Solea.", erwiderte er und sah mich nicht einmal an. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Keine Ahnung, ob es daran lag, dass ich komplett durchnässt war, oder daran, dass er mich „Solea" nannte. Er nannte mich nie so, immer nur „Sol".

„Es tut mir leid, Zayn. Ich weiß, ich bin zu spät.", entschuldigte ich mich und nahm seine Hand.

„Zu spät...", er lachte auf „Du hast dich um eineinhalb Stunden verspätet!".

„Ich weiß, es... es tut mir leid. Ich...".

„Du warst bei deiner Ballettschule, hab ich recht? Bei Emma.". Er sprach ihren Namen aus, als wäre es irgendeine ansteckende Krankheit.

„Es tut mir leid.", wiederholte ich „Wir haben trainiert und dabei habe ich die Zeit aus dem Auge verloren.".

„So wie gestern?", fragte er und sah mich traurig an „Gestern hast du das selbe gesagt.".

Er hatte recht. Ich war furchtbar. Ich war eine miserable Freundin und wusste nicht, wie ich das wieder gut machen konnte.

„Weißt du, Solea... Du bist für mich momentan das Wichtigste auf der Welt. Wenn du anrufst, gehe ich immer sofort ran, egal wie beschäftigt ich bin. Du drückst mich in letzter Zeit nur noch weg oder legst schnell wieder auf. Wenn du irgendetwas brauchst, dann komme ich sofort. Ich denke andauernd an dich, während du mich offensichtlich ständig vergisst. Ich hab manchmal das Gefühl, ich wäre dir überhaupt nicht mehr wichtig! Und wo wir gerade schon dabei sind: Wann hast du das letzte mal gesagt, dass du mich liebst? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich sage es dir so oft, aber von dir kommt in letzter Zeit nichts mehr.". Ich sah ihn fassungslos an. Es war hart, was er mir an den Kopf warf, aber noch viel härter war, dass ich ihm nicht widersprechen konnte. Er hatte recht. Nicht damit, dass er mir scheinbar unwichtig war, das war er definitiv nicht. Aber ich musste zugeben, dass ich ihm das nicht besonders oft zeigte. Ich hatte kaum noch Zeit für ihn.

„Du bist mir nicht unwichtig, Zayn! Ich war einfach so sehr beschäftigt. Mit der Schule, mit Emma und dem Tanzen.".

„Das war so klar. Sogar wenn du Tanzverbot hast, dreht sich bei dir alles nur ums Tanzen!".

Verzweifelt sah ich ihn an: „Ich liebe das Tanzen eben!".

„Und mich liebst du nicht, oder was?".

„Doch, natürlich. Aber ich tanze seit ich vier bin, Zayn. Das ist mir wichtig.".

„Ich bin dir also nicht wichtig.", erwiderte er.

„Dreh mir doch nicht alle Worte im Mund um! Das habe ich gar nicht gesagt!", versuchte ich mich zu verteidigen. Ja, ich hatte Mist gebaut und Zayn hatte allen Grund dazu, sauer zu sein. Aber dass er alle Entschuldigungen abblockte, war einfach nicht fair.

„Aber gedacht.".

Langsam wurde auch ich sauer: „Kannst du jetzt auch noch Gedanken lesen, oder was?".

„Nein, aber ich bin nicht schwer von Begriff.".

„Du wusstest, dass das Tanzen für mich wichtig ist. Und du wusstest, dass es bei mir immer auf Platz eins steht.".

Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und sah mich dann ernst an: „Weißt du was? Das reicht mir nicht. Ich kann das so nicht. Denn du bist für mich immer auf Platz eins.".

Geschockt sah ich ihn an: „Was heißt das jetzt? Willst du Schluss machen?".

„Das habe ich nicht gesagt!".

„Aber gedacht.", zitierte ich ihn.

Er wollte protestieren, schien es sich dann aber anders zu überlegen und ließ traurig die Schultern sinken: „Wenn du es so willst.".

Fassungslos starrte ich ihn an. Das war's jetzt also? Ernsthaft? Ich stand regungslos da und versuchte die Übelkeit zu unterdrücken, die augenblicklich in mir hochkam. Ich wusste nicht, was ich sagen oder erwidern konnte, daher stand ich einfach nur da und starrte ihn an. Er schien mit keiner weiteren Reaktion von mir zu rechnen, denn in der nächsten Sekunde drehte er sich einfach um und ging. Ich lief ihm nicht einmal hinterher. Vielleicht hätte ich es tun sollen, vielleicht hätte ich ihn aufhalten sollen. Aber ich war wie gelähmt. Ich fühlte mich furchtbar. Mir ist gar nicht aufgefallen, was für eine miserable Freundin ich war. Er hatte recht, er tat alles für mich. Und ich? Ich vergesse und versetze ihn. Und er hatte auch recht damit, dass ich selten sagte, dass ich ihn liebte. Er sagte es oft, aber von mir kommt meistens nur ein „Ich dich auch.". Ich erwidere es nur, bin aber nicht die erste, die es sagt. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ihn das so störte. Als ich ins Krankenhaus kam und Anna kennenlernte, hatte sie mich gefragt, ob ich Zayn lieben würde. Ich sagte ja, obwohl ich mir nicht ganz sicher war. Hätte sie mich gefragt, ob ich das Tanzen lieben würde, dann hätte ich ohne zu zögern ja gesagt. Denn ich wusste, wie ich mich fühlte, wenn ich nicht tanzte. Und genau so fühlte ich mich jetzt gerade, als Zayn wegging. Nein, es war sogar noch schlimmer. Viel schlimmer. Die Tränen bannten sich einen Weg über mein Gesicht. Verdammt! Es war wie mit dem Tanzen. Richtig bewusst, wie sehr ich es liebte und brauchte, wurde mir erst, als ich es nicht mehr durfte. Und Zayn? Jetzt, wo ich ihn verloren habe, realisierte ich erst, wie wichtig er mir war. Dinge und Menschen, die wir lieben, werden für uns schnell zu etwas Selbstverständlichem. Wir müssen sie erst verlieren, um uns einzugestehen, wie wichtig und wertvoll sie waren. 

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