Siebenunddreißig

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So habe ich Zayn noch nie gesehen. Er wirkte wie ein kleines Kind, dessen Hamster gerade gestorben war. Na gut, doofes Beispiel. Aber er versuchte krampfhaft, sich mir gegenüber nichts anmerken zu lassen, doch ich erkannte, dass es ihm nicht gut ging. Allerdings blockte er jeden meiner Versuche, mit ihm über seinen Vater zu reden, ab. Zac tauchte im Laufe des Abends wieder auf, sein Vater jedoch nicht. Nach dem Abwasch sind Zayn und ich hoch in sein Zimmer und haben noch einen Film gesehen, dann haben wir uns umgezogen und sind ins Bett. Jetzt war es bereits nach Mitternacht und ich lag immer noch wach. Zayn neben mir hatte seinen Arm um mich geschlungen und atmete in ruhigen Zügen. Er schlief bereits. Ich war auch todmüde, allerdings musste ich die ganze Zeit an Mister Walthers, an seine Geschwister und an ihren Vater denken. Und egal wie sehr ich versuchte, die Sichtweise von Zayns Vater einzunehmen, ich konnte ihn einfach nicht verstehen. Es war nicht fair, wie er mich behandelte, aber na gut, ich war eben nur die Freundin seines Sohnes, ich gehörte nicht zur Familie. Aber dass er Zayn, seinen eigenen Sohn, behandelte, als wäre er nur ein Schandfleck, das war echt nicht okay. Und dass er Zac im Gegenzug  immer wie seinen ganzen Stolz behandelte, war auch nicht okay. Er lobte ihn nur, um Zayn zu kritisieren, er sprach nur über ihn, um Zayn zu blamieren und er betonte seine Stärken, um Zayn auf seine Schwächen aufmerksam zu machen. Er spielte seine beiden Söhne gegeneinander aus, aber es funktionierte nicht so, wie er wollte. Und das machte ihn wütend.

Ich zuckte zusammen, als ich ein Scheppern von unten hörte, dicht gefolgt von einem verärgerten Fluchen. Ich hörte Schritte vor der Zimmertür und wie jemand die Treppe nach unten ins Wohnzimmer lief. Noch ein Scheppern. Ein Einbrecher? Ich hörte Stimmen von unten. Eine leise, flüsternde Stimme, die ich durch die geschlossene Tür nicht verstehen konnte und eine laute, energische Stimme. Ich hob Zayns Arm hoch und befreite mich aus seinem Griff, um aufzustehen und leise zur Tür zu laufen. Ich musste wissen, was da unten los war. Ich öffnete die Tür und schlich zur Treppe. Von hier aus konnte ich genau hören, zu wem die beiden Stimmen gehörten. Mister Walthers war zurückgekehrt und ich konnte seine Alkoholfahne bis nach oben riechen.

„Das ist inakzeptabel!", hörte ich ihn rufen.

„Stefan, jetzt sei doch bitte nicht so laut! Die anderen schlafen schon!", beruhigte ihn Melanie.

„Das ist mir egal, ob die schlafen oder nicht. Der Abend war eine Katastrophe. Ich habe mich selten so gedemütigt gefühlt.".

Ich hätte beinahe laut gelacht. Er hat sich gedemütigt gefühlt? Was sollten denn seine beiden Söhne sagen?!

„Das hat deine Mutter nicht so gemeint.", erwiderte Melanie leise. Ah, es ging vermutlich um den Streit, kurz bevor Mister Walthers das Haus verlassen hat. Um die Worte, die die Großmutter zu ihm gesagt hat: Siehst du, was du getan hast, Stefan? Du hast jetzt beide Söhne verloren. Ja, auch ich fand den Satz ziemlich hart, aber er hatte ihn verdient.

„Meine eigene Mutter! Sie hat schon immer ein Problem mit meinem Erfolg. Sie hat es mir nie gegönnt! Und jetzt gönnt sie es meinen Söhnen nicht!".

Ach du meine Güte, was war das denn für eine Drama-Queen. Ich wollte aufstehen und gehen, doch dann hielt ich inne, als ich Mister Walthers über mich reden hörte: „Und dann war da auch noch dieses Mädchen! Damit hat doch alles angefangen! Was hat sie überhaupt hier zu suchen gehabt? Das war eine Familienfeier!".

Melanie antwortete irgendetwas, aber ich konnte es nicht verstehen, weil es zu leise war.

„Nett?!", rief Mister Walthers aufgebracht. „Wenn man nur nett ist, kommt man im Leben nicht weit. Das solltest du doch eigentlich wissen.".

Ich rutschte auf meinem Hintern ganz leise drei Stufen nach unten, um sie besser hören zu können. Von hier aus konnten sie mich zwar noch nicht sehen, da sie sich im Wohnzimmer befanden, doch ich wusste, dass es trotzdem ziemlich riskant war.

„Ja, das weiß ich. Und genau so weiß ich auch, wie sich Solea fühlt. Deine Familie konnte mich auch nie leiden, nur weil ich nicht so viel Geld und Ansehen hatte wie ihr.".

„Es geht nicht darum, dass sie kein Geld und Ansehen hat. Es geht darum, dass sie krank ist, Melanie!".

Ich weiß, es gehört sich nicht, zu lauschen. Ich schämte mich auch dafür und vermutlich wäre es das Beste gewesen, wenn ich jetzt einfach wieder ins Bett gegangen wäre, doch ich war zu neugierig. Immerhin ging es gerade um mich.

„Was hat ihre Krankheit damit zu tun? Sie ist ein so liebes Mädchen! Und Zayn scheint sie wirklich zu lieben, also gehört sie zu unserer Familie, ob es dir gefällt oder nicht!".

Mister Walthers lachte auf und seine Stimme war voller Spott: „Ja, Zayn! Sie passt wirklich gut zu ihm.".

„Was meinst du damit?".

„Sie und Zayn haben im Moment die gleichen mittelmäßigen Chancen. Bei dem Mädchen liegt es an ihrer Krankheit, bei unserem Sohn an seiner Faulheit und diesem sturen Kopf!".

„Du kannst sie nur nicht leiden, weil sie Krebs hat?", fragte Melanie leise.

„Sie ist nicht gut für Zayn. Er braucht jemanden, der ihn motiviert zu lernen. Jemanden, der auch nach Harvard geht und die gleichen Ziele hat wie er, damit er sich endlich zusammenreißt.".

„Die gleichen Ziele wie er? Du meinst, wie du, oder?".

„Wessen Ziele es sind ist doch vollkommen egal, Melanie! Wichtig ist nur, dass es die richtigen sind. Mit diesem Mädchen an seiner Seite wird aus ihm nie etwas. Soll ich dir sagen, wo das endet? Sie wird immer kränker und fordert immer mehr von Zayns Zeit ein. Er wird keine Zeit mehr haben, sich auf seine Zukunft zu konzentrieren, weil er immer nur im Krankenhaus sein wird. Bis sie stirbt. Und du weißt, wie es bei meinem Vater war. Wie lange es gedauert hat, bis er gestorben ist. Für meine Mutter waren die Jahre davor, in denen er nur noch im Krankenhaus und im Hospiz lag, unerträglich und sie ist beinahe daran zerbrochen. Ist es wirklich falsch, wenn ich meinen Sohn vor diesem Leid bewahren will? Und unsere Familie. Du hast gesehen, was heute Abend passiert ist. Sie kommt mit meinen Geschwistern nicht klar. So wird jede Familienfeier aussehen, wenn Zayn sie weiterhin mitschleppt.".

„Aber Zayn liebt sie!", erwiderte Melanie energisch.

„Genau davor habe ich ja Angst. Es wäre mir lieber, wenn er nur aus Mitleid mit ihr zusammen wäre. Dann wäre er zwar ein Feigling, aber wenigstens nicht vollkommen verblödet.".

„Du benimmst dich wie ein Idiot, Stefan! Denkst du wirklich, Zayn wird sich von ihr trennen, nur weil du ein Problem mit ihr hast?!".

„Ich hoffe einfach nur, dass mein Sohn doch noch etwas mehr Verstand als eine Erbse hat. Eine Beziehung mit einer Krebskranken!", er lachte laut auf „Auf so eine Idee kann auch echt nur Zayn kommen!".

„Ich schäme mich langsam echt für dich, Stefan.", flüsterte Melanie leise.

Ich klammerte mich am Treppengeländer fest, weil mir schwindelig wurde und ich befürchtet, ich würde runter fallen. Er hasste mich wirklich. Aber es lag nicht einfach nur an mir, sondern an meiner Krankheit. Das heißt, ich konnte rein gar nichts tun, um mich zu ändern.

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