Achtzehn

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Ich bin jetzt schon drei Wochen wieder in der Schule. Ich muss sagen, es wurde von Tag zu Tag seltsamer. An den ersten drei Tagen war das Getratsche groß. Das Gerücht, dass ich Krebs habe, schien wahr zu sein. Ich wurde andauernd gefragt, wie es mir geht. Es nervte, aber es ließ irgendwann nach. Ab der zweiten Woche begann dann plötzlich die Mitleids-Nummer. Das war echt schräg. Es fing damit an, dass mir eine Mitschülerin ein komisches ätherisches Öl von ihrer Mutter mitgebracht hat, was angeblich die bösen „Krebs-Geister" verjagen soll. Daraufhin schenkte mir eine andere Schülerin eine Duftkerze. Und so gingen die Mitleidsgeschenke los. Niemand wollte als kaltherzig und  egoistisch gelten, weil er kein Mitleid mit einer Krebspatientin hat. Also brachten sie mir Geschenke. Es verging kein Tag, an dem ich keins mit nach Hause brachte. Kerzen, Blumen, Schokolade, Plüschtiere.... Anfangs fand ich es noch witzig. Jetzt nicht mehr. Zu den Mitleidsgeschenken kamen Mitleidsbriefe, die sie mir durch den Schlitz in meinen Spind schmissen. „Bleib stark, Sol!", „Du bist eine Kämpferin." oder „Wir sind für dich da!". Anfangs habe ich sie mir noch durchgelesen, aber jetzt schmiss ich sie ohne zu öffnen weg.

Und als wären diese Geschenke und Briefe nicht schon schlimm genug, werde ich jetzt auch noch von den Lehrern bevorzugt. Ich bekomme für meine Hausaufgaben länger Zeit oder werde wegen meiner „besonderen Situation" vom Test befreit. Dabei wollte ich das gar nicht. Ich wollte behandelt werden, wie früher.

Zum Beispiel habe ich gerade eben meinen Deutsch-Aufsatz wieder bekommen. Kayla wollte mir nicht glauben, dass ich bevorzugt werde, also habe ich den Aufsatz absichtlich versaut. Er war wirklich schlecht. Voll mit Rechtschreib- und Logikfehlern. Ich hätte mir selbst eine Fünf gegeben. Meine Lehrerin jedoch nicht. Sie gab mir eine Zwei und malte mir mit ihrem roten Stift sogar noch ein vierblättriges Kleeblatt und ein Glücksschwein hin. Wütend stapfte ich aus den Klassenraum. Es war für viele vielleicht nicht verständlich, wie ich mich über so eine Sonderbehandlung nicht freuen konnte, aber ich wurde so erzogen, dass ich nichts bekomme, was ich nicht auch verdiene. Ich will mir meine Noten selbst verdienen. Klar hätte ich in dem Aufsatz eine Zwei schreiben können. Aber ich will die Zwei bekommen, weil ich gelernt habe und weil ich es kann und nicht, weil meine Lehrerin Mitleid mit mir hat und gerne Glücksschweine malt.

Ich hämmerte den Zahlencode in meinen Spind und riss ihn auf. Sofort kam mir wieder ein Schwall Briefe entgegen. Ich unterdrückte das Bedürfnis zu schreien und knüllte jeden einzelnen Mitleidsbrief zusammen. Ich wollte nicht lesen, dass ich stark sein soll oder dass Menschen, mit denen ich für gewöhnlich nicht ein Wort rede und die sogar meinen Namen falsch schreiben, angeblich für mich da seien. Ich spürte die Blicke der anderen auf meinem Rücken, wie sie irritiert dabei zusahen, wie ich die Briefe zerknüllte und in den Mülleimer schmiss.

„Die Ärmste. Das müssen Nebenwirkungen ihrer Medikamente sein.", hörte ich ein Mädchen flüstern und ich war kurz davor, ihr eine reinzuhauen. Es waren nicht Nebenwirkungen der Medikamente, es waren Nebenwirkungen der Schule!

„Hey, hey, hey!", plötzlich spürte ich zwei starke Arme um meine Taille. „Was ist denn los?".

„Nichts.", fauchte ich und kramte in meiner Tasche nach Klebestreifen.

Zayn packte mich an den Händen und zwang mich, ihn anzusehen: „Haben sie irgendetwas gesagt oder gemacht?".

Ich schüttelte den Kopf und wandte mich aus seinem Griff.

„Was ist mit euch los, ihr Freaks?! Habt ihr kein eigenes Leben?", wandte er sich an die Schülermenge, die noch immer um meinem Spind herum stand.

Während Zayn sie vertrieb, machte ich mich daran, den Schlitz meines Spindes mit Klebestreifen zuzukleben. Ich wollte nie wieder auch nur einen Mitleidsbrief sehen.

„Was ist los?", fragte Zayn erneut und strich mir über den Arm.

„Ich hasse es.", presste ich zwischen zusammengebissen Zähnen heraus „Ich hasse es, dass sie mich behandeln, als würde ich jeden Moment tot umfallen.".

Zayn zog mich in eine Umarmung und ich musste mich bemühen, die Tränen zu unterdrücken.

„Und dann auch noch diese Briefe und die Geschenke!", flüsterte ich traurig. „Ich bin für sie wie ein Mittel, um ihr Image aufzubessern. Oh, sie schenkt der Krebskranken eine ekelhaft stinkende Duftkerze! Sie muss ein toller, emphatischer Mensch sein! Sie kennen mich nicht einmal und behaupten, für mich da zu sein und so ein Scheiß!".

„Lass sie einfach reden, Sol.".

„Das habe ich. Ich habe sie drei Wochen lang reden lassen. Du hast gesagt, es wird etwas neues passieren, sodass sie mich wieder vergessen, aber es passiert einfach nichts!".

„Es braucht eben seine Zeit. Es wird schon etwas passieren, versprochen.".

„Und wenn nicht?".

Die Zeit steht nicht still, Sol. Das hat er mir das letzte mal auf diese Frage geantwortet.

Aber dieses mal nicht: „Weißt du was? Ich habe dir versprochen, dass etwas passieren wird. Und ich werde mein Versprechen halten.".

Ich lachte traurig: „Und wie?".

„Du wirst schon sehen.", mit diesen Worten drückte er mir einen Kuss auf die Stirn und lief davon.

SunriseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt