Neunundvierzig

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Es war nur ein winziger Zettel aus so einem dämlichen Glückskeks und trotzdem schaffte er es, meine gute Laune zu verderben. Eigentlich war es sogar ein schöner Spruch, mit einer klaren Botschaft, aber für mich war er wie ein Messer in der Wunde. Der Gesunde ist unwissend reich. Dieser eine Satz sorgte dafür, dass ich mich wieder krank fühlte.

„Und? Was steht bei dir?", fragte Zayn interessiert und ich hob hastig den Kopf: „Ähm... Bei mir? Äh...". Ich weiß selbst nicht genau, warum ich log, aber in meinem Kopf wandte ich den Spruch ganz schnell um. „Der... Geliebte ist unwissend reich.".

Zayn grinste: „Schöner Spruch.".

Ich war hin und her gerissen. Einerseits wollte ich mir innerlich auf die Schulter klopfen und mich loben, wie schnell mir ein alternativer Spruch eingefallen ist, aber andererseits wollte ich mich ohrfeigen, warum ich Zayn schon wieder angelogen habe. Ich wollte nicht, dass wir die Unbeschwertheit, die uns im Moment umgibt, verlieren und wir schon wieder über den Krebs nachdenken müssen. Aber andererseits war es extrem dumm von mir, ihn anzulügen. Jetzt mache ich mir nur wieder Selbstvorwürfe.

Ich versuchte den Rest des Abends wieder das Gefühl von Freiheit und Sorglosigkeit zurück zu bekommen, aber es gelang mir nicht. Und dann ärgerte ich mich darüber, dass es mir nicht gelangt und dass ich allen Erstes zugelassen habe, dass mir so ein dämlicher Glückskeks die Laune verdarb. Zayn schien jedoch nichts zu bemerken. Den ganzen Abend grinste er glücklich vor sich hin und mein schlechtes Gewissen wuchs immer mehr. Es war ja nur eine winzige, klitzekleine Lüge und sie war so unbedeutend, dass sich die meisten Menschen absolut gar keine Sorgen darüber machen würden. Es hätte ja sogar sein können, dass ich statt „Der Gesunde" wirklich „Der Geliebte" gelesen habe. Aber so wie ich nun einmal war, hatte ich Gewissensbisse.

Wir bezahlten unsere Rechnungen, verließen das Restaurant und dann fuhr mich Zayn nach Hause. Dort angekommen, entdeckte ich Julie und Grayson auf dem Sofa vor dem Fernseher.

„Wo ist Mom?", fragte ich und setzte mich zu meinen Geschwistern.

Julie zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung. Als ich nach Hause kam, war sie schon weg.".

Ich sah fragend zu Grayson, doch der zog auch nur die Schultern hoch: „Ich kam erst nach Julie, also keine Ahnung.".

„Und Dad?". 

„Der ist auch weg.", nuschelte Julie, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

„Die beiden sind weg, ohne uns beschied zu sagen?", fragte ich und richtete mich alarmiert auf.

„Entspann dich, Sol. Die beiden sind erwachsen, sie müssen uns nicht bescheid sagen, wenn sie das Haus verlassen.".

„Aber das tun sie doch sonst immer. Macht ihr euch denn keine Sorgen?".

Die beiden sahen mich kurz an, dann machten sie ein grunzendes Geräusch und wandten den Blick wieder zum Fernseher. Das hieß dann wohl nein.

Ich seufzte: „Ich wusste, es war ein Fehler, einfach zu gehen. Wir hätten hier bleiben sollen.".

„So ein Schwachsinn.", Grayson schüttelte energisch den Kopf „Wahrscheinlich sind sie nur einkaufen oder so.".

Ich warf einen Blick auf die Uhr „Um halb zehn Uhr abends?".

Grayson wollte gerade etwas erwidern, da hörten wir, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Wir hielten inne, als Mom ihren Kopf in das Wohnzimmer steckte und uns anlächelte: „Da seid ihr ja wieder. Hattet ihr einen schönen Abend?".

Wir nickten irritiert. Warum hatte sie plötzlich so gute Laune?

„Das freut mich. Aber wisst ihr was? Ich bin hundemüde. Ich werde gleich ins Bett gehen.", sie kam zu uns und küsste jeden von uns auf die Stirn. „Julie? Du gehst auch gleich ins Bett, ja?". Sie sah zu Grayson und mir „Und ihr zwei macht auch nicht mehr lange, okay? Gute Nacht, meine Süßen!". Sie verließ das Wohnzimmer und lief die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer. Kaum war sie weg, kam Dad zu uns.

„Was ist los mit ihr?", fragte Grayson überrascht.

Dad seufzte: „Sie war ziemlich sauer auf euch. Dann ist sie ins Fitnessstudio.".

„Ins Fitnessstudio?", fragte Julie und auch ich musste lachen. Mom zahlte seit drei Jahren ihre Mitgliedschaft, war jedoch seit zwei Jahren nicht mehr da.

„Ja und dort hat sie dann Doktor Hegers getroffen.".

„Wirklich?", fragte ich ungläubig. Wie klein die Welt doch ist.

„Eure Mom hat mit ihr gesprochen und Doktor Hegers konnte sie besänftigen.".

Die arme Therapeutin. Da will sie einfach nur einmal Sport machen und muss dann auch noch in ihrer Freizeit arbeiten. Die Ärmste. Allerdings war ich ihr mehr als dankbar dafür, dass sie meine Mom beruhigt hat.

„Dann ist die Psycho-Tante ja doch für etwas gut.", stellte Julie fest.

„Ihr solltet euch trotzdem zusammen reißen.", Dad sah uns ermahnend an „Eure Mom hat es gerade nicht leicht. Und wenn ihr drei euch gegen sie verschwört, dann macht ihr es nur noch schlimmer.".

„Wir haben uns nicht verschworen.", rechtfertigte uns Grayson „Wir haben unsere Joker eingelöst. Das sind ihre Regeln in ihrem Spiel. Wir haben nichts falsch gemacht.".

Dad seufzte: „Schon gut. Aber seid trotzdem nicht so hart zu ihr.", er sah zu Julie und klopfte ihr auf die Schultern: „Na los, Julie. Ab ins Bett.".

Meine Schwester stand auf und lief zur Treppe. Ich erhob mich ebenfalls: „Ich werde auch schlafen gehen. Ich wollte morgen früh zu Anna fahren.".

„Solange du davor mit uns frühstückst.", grinste Grayson und Dad warf ihm einen strengen Blick zu: „Ich meine das ernst, Grayson.".

„Ich auch. Todernst. Ich muss extra für euch in aller Herrgottsfrühe aufstehen. Und das an einem Sonntag.".

Lachend lief ich zur Treppe: „Nacht, Dad! Nacht, Gray!".

„Darf ich nach dem Frühstück dann eigentlich wieder ins Bett gehen?", hörte ich meinen Bruder fragen, woraufhin mein Dad streng „Grayson!" rief.

Kopfschüttelnd schloss ich meine Zimmertür hinter mir. Ich nahm meine Perücke ab und setzte stattdessen eine gelbe Stoffmütze auf und wechselte meine Klamotten gegen meinen Schlafanzug. Gerade als ich meine Jeans auszog, fiel der Zettel mit dem dämlichen Glückskeksspruch aus der Tasche. Ich hatte ihn vorhin schnell in meine Hosentasche gesteckt, damit Zayn ihn nicht las. Und jetzt lag er hier, auf dem Boden meines Zimmers. Einige Sekunden lang starrte ich den Zettel an, ohne mich zu bewegen, dann hob ich ihn auf. Der Gesunde ist unwissend reich. Wenn das so ist, was bin ich dann? Wissend arm? Der Spruch war ja eigentlich ganz schön. Und wahr. Aber ich fühlte mich einfach vom Universuch reingelegt. Ich wusste, dass es Zufall war, dass ich diesen Keks erwischt habe. Aber aus irgendeinem Grund bildete ich mir ein, dass mich das Universum damit einfach provozieren und mir mit einem höhnischen Grinsen den Mittelfinger zeigen wollte.

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