Zweiundvierzig

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„Was meinst du mit Hilfe?", fragte ich und meine Stimme klang schon viel leiser und ruhiger.

„Wir werden uns professionelle Hilfe suchen. Als du deine Krebsdiagnose bekommen hast, hat mir der Arzt den Kontakt einer Psychologin gegeben. Er meinte, dass es den Betroffenen und deren Familie oft helfen würde, mit der Krankheit umzugehen. Es gibt Familien- und Einzelsitzungen und ich denke, dass es genau das ist, was wir jetzt brauchen.".

„Vergiss es.", erwiderte ich und lachte auf „Ich werde bestimmt nicht zu einer Kummerkastentante gehen.".

„Das ist keine... Kummerkastentante, sondern eine Psychologin und Therapeutin, die genau auf solche Fälle spezialisiert ist.".

„Ich habe die Selbsthilfegruppe im Krankenhaus. Die reicht mir.".

„Mir aber nicht!", beharrte meine Mutter und packte mich am Arm „Versteh doch, ich tu das ausnahmsweise mal nicht nur für dich, sondern auch für mich. Für uns alle. Komm mit.".

Sie zog mich die Treppe runter ins Wohnzimmer. „Julie! Grayson! Herkommen!".

„Was?!", fragte ich schroff „Julie und Grayson auch?! Wozu denn?".

„Darum.", erwiderte sie streng und wies meine Geschwister, die gerade die Treppe runter kamen, an, sich hinzusetzen.

„Was ist los?", fragte Grayson vorsichtig, als er Moms verheultes Gesicht sah.

„Wir müssen reden.", antwortete sie und setzte sich ebenfalls „So geht das nicht weiter.".

Als wir alle saßen, faltete sie ihre Hände zusammen und sah uns mit einem Blick an, der eindeutig keinen Widerstand duldete: „Wir gehen zu einer Familientherapie.".

„Was?!", fragte Julie und auch Grayson sah sie verwundert an: „Du meinst ihr beide und Sol?".

„Nein, ich meine uns alle. Als Familie.".

„Auch Gray und ich?", fragte Julie und verschränkte die Arme vor der Brust „Nö. Darauf hab ich echt keinen Bock.".

„Julie!", ermahnte Dad sie und sah sie streng an „Ich bitte euch. Das ist eurer Mutter sehr wichtig.".

„Es ist für uns alle wichtig.", verbesserte Mom ihn „Seit Soleas Diagnose hat sich unsere Familie verändert.".

„Und was erhoffst du dir von der Therapie?", fragte Grayson und ich bewunderte ihn dafür, wie ruhig und sachlich er sprach. 

„Ich hoffe, dass euer Dad und ich lernen, wie wir Sol und auch euch zu behandeln haben. Und dass ihr zwei über das reden könnt, was euch bedrückt. Damit wir uns nicht mehr weiterhin streiten. Ich... ich denke, dass es uns allen sehr helfen wird. Und das denkt Soleas Arzt auch.".

„Na ganz toll.", grummelte Julie und warf mir einen bösen Blick zu „Dank Sol müssen wir zu so einer Psycho-Tante.".

„Daran ist eure Schwester nicht schuld, okay?", ermahnte Dad sie.

„Und wann ist die erste Sitzung?", fragte Grayson.

„Du willst da doch nicht wirklich hin, oder?", fragte Julie unseren Bruder.

„Vielleicht hat Mom recht. Vielleicht hilft es uns und selbst wenn nicht, dann wird es zumindest nicht schaden.", antwortete er, woraufhin Julie laut auflachte: „Ja klar. Von mir aus gehe ich da hin, aber erwartet nicht, dass ich da auch nur ein Wort rede!".

„Ich werde sofort in der Praxis anrufen und versuchen, für morgen einen Termin zu machen.", beantwortet Mom seine Frage. „Und ich erwarte von euch allen, dass ihr euch bemüht und es mit dem nötigen Ernst betrachtet. Ihr alle!", sie sah Julie ermahnend an. Diese seufzte nur, stand mürrisch auf und lief hoch in ihr Zimmer.

Grayson, Mom, Dad und ich blieben schweigend sitzen. Ich fühlte mich wie versteinert. Ich wollte nicht zu dieser dämlichen Therapie. Aber Mom hatte recht. Der heutige Tag hatte gezeigt, dass wir es wohl alle nötig hatten. Als Familie.

Als ich die Krebsdiagnose bekam, wusste ich sofort, dass sich mein Leben verändern würde. Dass ich mich verändern würde. Aber erst jetzt wird mir klar, dass sich auch die Familien der Betroffenen verändern. Vielleicht hatte Mom recht. Vielleicht brauchen wir wirklich Hilfe, damit alles wieder so werden kann, wie es einmal war. Wobei ich in letzter Zeit immer mehr daran zweifle, ob das überhaupt möglich ist.

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