Achtundvierzig

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Als ich an Zayns Haustür klingelte, war ich sehr erleichtert, dass er selbst die Tür aufmachte und nicht sein Vater. Er hatte bereits Schuhe und seine Jacke an und sah aus, als wollte er gerade gehen.

„Sol? Du bist ja schon da. Ich wollte gerade los und dich abholen.", sagte er überrascht, nachdem er mir ein Kuss auf die Stirn gedrückt hat. „Mein Bruder hat mich gefahren.", antwortete ich und folgte ihm zu seinem Auto. Auf dem Weg zum Restaurant erzählte ich ihm alles von der Therapie und von meiner Mom. Eigentlich wollten wir zu einem Italiener, aber wir entscheiden uns spontan um und fuhren zum Chinesen. Während der Fahrt hatte ich noch ein schlechtes Gefühl wegen meiner Mom, aber sobald wir im Restaurant an unserem Tisch saßen und unsere Bestellung aufgegeben haben, vertrieb ich die Gedanken und entspannte mich.

„Ihr müsst einen Spieleabend veranstalten?", fragte er lachend.

Ich nickte und nahm einen Schluck von meiner Apfelschorle. „Mom nennt es einen Montages-Familien-Spiel-und-Spaß-Abend. Jeden Sonntag.".

Er grinste: „Na dann viel Spaß.".

Ich verdrehte die Augen: „Das ist nicht witzig. Wir müssen auch morgens und abends immer zusammen essen. Und sonntags dieser dämliche Familienspieleabend. Einmal im Monat müssen wir zur Therapie-Sitzung bei Doktor Hegers. Ich muss nebenbei zur Schule und einmal die Woche zum Tanzen. Sie plant meine gesamte Zeit ein.", ich seufzte „Aber lass uns das Thema wechseln. Ich werde die nächsten Tage viel Zeit mit meiner Familie verbringen, dann muss ich nicht jetzt noch über sie sprechen.".

Zu meiner Erleichterung schien Zayn mich zu verstehen und wechselte das Thema. Ich kann gar nicht genau sagen, worüber wir alles sprachen, aber auf jeden Fall nicht über meine verkorkste Familie, Krebs, Tod oder Krankenhaus. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich tatsächlich wieder.... „normal". Was auch immer das bedeutete. Ich hatte endlich wieder das Gefühl, alles wäre so wie früher. Ich fühlte mich nicht krank. Nicht, als hätte ich Krebs. Nicht, als hätte ich eine Freundin, die im Sterben liegt. Nicht, als wäre meine Familie momentan am Zerbrechen. Ich fühlte mich einfach frei. Wie ein normales, siebzehnjähriges Mädchen, das mit ihrem Freund ausgeht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich jemals wieder so fühlen würde.

„Darf ich Ihnen vielleicht noch einen Glückskeks anbieten?", fragte die Kellnerin, als sie uns die Rechnung brachte.

„Gerne. Vielen Dank.", ich griff nach der dunkelgrünen Schale, die sie uns entgegen hielt und angelte mir einen Keks heraus.

„Uiii! Ich liebe Glückskekse!", Zayn schnappte sich ebenfalls einen Keks und grinste dabei wie ein kleines Kind an Weihnachten. Seine Begeisterung war ansteckend und ich musste laut lachen.

„Ich glaub ich hab seit Jahren keinen Glückskeks mehr essen.", stellte ich fest, als ich das knisternde Papier zerriss.

„Echt?", fragte Zayn und sah mich mit großen Augen an.

Ich zuckte mit den Schultern: „Na ja, ich war auch schon ewig nicht mehr chinesisch essen.".

„Ach ja, Ernährungsplan und so.", er nickte verstehend und brach seinen Keks in der Mitte durch, um an den kleinen Zettel im Inneren zu kommen. „Die Fehler, die wir im Leben machen, sind die besten Lehrmeister.", las er vor.

Ich zerbrach meinen Keks ebenfalls und glättete den Zettel. Ich wollte gerade auf Zayns Spruch antworten, als ich meinen eigenen las. Zuerst sah ich nur die chinesischen Schriftzeichen, aber dann drehte ich den Zettel um und die Wörter sprangen mir Schwarz auf Weiß entgegen. Es dauerte einige Sekunden, bis ich realisierte, was da stand.

„Und? Was steht bei dir?", fragte Zayn interessiert, aber ich antwortete nicht. Stattdessen starrte ich immer noch auf den kleinen, weißen Zettel mit dem kurzen, aber dennoch ironisch spöttischem Spruch.

Der Gesunde ist unwissend reich. 

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