new case, old memories (4)

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Du kannst deine Augen vor der Realität verschließen, aber nicht vor deinen Erinnerungen.
~ Stanislaw Jerzy Lec

D E X T E R

Die Wucht seiner Kugel, die in meine Schutzweste knallte, schmiss mich rückwärts von den Stufen der Fahrerkabine und ich landete auf dem harten Asphalt. Für einen kurzen Moment blieb mir die Luft weg und ich war benommen. Ich nahm die Sirenen kaum noch wahr, ein durchgezogenes, unangenehmes Piepen in meinen Ohren übertönte alles andere. "Jess!" Diese Stimme kannte ich doch. Jemand kam neben mir zum Stehen und kniete sich neben mich, eine warme Hand strich mir über die Wange. "Jess, mach jetzt keinen Scheiß, ja? Öffne die Augen." Ich tat, worum er mich bat und es war, als würde ich durch das Öffnen meiner Augen aufwachen. Das Piepen in meinen Ohren wurde schwächer und ich begann zu husten und nach Luft zu schnappen. "Gott sei Dank. Jag mir nie wieder so einen Schreck ein!" Erleichtert musterte Morgan mich und hockte sich hinter mich, um meinen Kopf auf seinen Schoß zu legen. Vorsichtig strich er mir eine meiner blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. "Was machst du bloß für einen Mist, hm?" Ich räusperte mich, meine Stimme war trotzdem kratzig, als ich fragte: "Hast du mich vor dem LKW weggezogen?" "Na klar. Der Kerl hat nicht angehalten, ich hatte verdammte Angst um dich." "Ist ja alles gutgegangen", erwiderte ich, noch immer leicht keuchend. Morgan wurde etwas sauer. "Gutgegangen? Sag mal, hast du was mitbekommen in den letzten Minuten? Du wärst zwei Mal fast gestorben und beide Male lag es daran, dass das Risiko, das du eingegangen bist, zu hoch war! Wenn du ihn nicht erschossen hättest, dann hätte sein zweiter Schuss dich vielleicht nicht bloß in die Weste getroffen!" Ich wollte etwas entgegnen, aber in diesem Moment kamen JJ, Reid und zwei Sanitäter zu uns. "Morgan, lass sie ihre Arbeit machen", sagte JJ sanft und zog meinen ehemaligen besten Freund vom Boden, nachdem mir eine Halskrause angelegt worden war. Leider konnte ich die Sanitäter nicht davon überzeugen, dass ich selbst laufen konnte, sie hievten mich gegen meinen Willen auf eine Trage und rollten mich zum Krankenwagen. Kurz bevor ich reingeschoben wurde, um ins Krankenhaus gebracht zu werden, erschien Hotch in meinem Blickfeld. Er war noch ernster, als sonst. "Wir reden über alles, wenn du aus dem Krankenhaus kommst. Ruf an, dann holen wir dich ab." Ich nickte, dann schloss ich die Augen, fühlte mich mit einem Mal irgendwie müde. Es ruckelte, als ich in den Krankenwagen geschoben wurde und das Zuknallen der Türen bereitete mir einen neuen Schub Kopfschmerzen. Die Sanitäterin, die mit mir hinten saß, half mir aus der Schutzweste, wobei ich mir mehrere Male einen Schmerzensschrei verkneifen musste. Dann schob die Brünette mein Oberteil hoch und lächelte mich an. "Da haben Sie sich aber ganz schön eine geholt. Wie nah waren Sie am Schützen?" "40cm Abstand. Aber er hatte nur ein kleines Kaliber und die Schutzwesten haben ihren Namen nicht umsonst." "Trotzdem, das hätte auch schief gehen können. Im Krankenhaus sollten Sie sich auf jeden Fall nochmal richtig durchchecken lassen. Das war ein ganz schöner Schlag auf die Leber. Außerdem sind sie auch ein wenig auf den Kopf gefallen, das ist wohl eine leichte Gehirnerschütterung. Haben Sie sonst Beschwerden?" "In meinen Ohren piept es, aber das war wohl die Lautstärke der beiden Schüsse. Ansonsten geht's mir gut."

Als ich fünf Stunden später das Krankenhaus verließ, dämmerte bereits der Morgen. Ich trug noch immer meine Klamotten von gestern, das Shirt war definitiv hinüber. Die Ärmel waren zerissen, unterhalb der Schutzwestenzone klebte Blut am blauen Stoff. Ich seufzte leise und zog mir unter Schmerzen meine Lederjacke über, dann entdeckte ich einen schwarzen SUV, der auf mich zukam und schließlich vor mir hielt. JJ und Reid sprangen heraus und umarmten mich, wobei mir ein schmerzverzerrtes Stöhnen entfloh. "Du hast uns allen einen ganz schönen Schreck eingejagt." "Tut mir Leid, das war nicht meine Absicht. Wie sauer sind Morgan und Hotch?" JJ seufzte. "Ziemlich sauer. Morgan besonders, weil er solche Angst um dich hatte und Hotch fand deinen Alleingang nicht so toll." Ich lächelte schwach. "Das hast du wirklich nett ausgedrückt, JJ. Aber na ja, ich muss die Standpauken wohl über mich ergehen lassen. Fahren wir." Wir stiegen also alle in den SUV und Reid fuhr uns zum Flugplatz. Meine Sachen hatten die anderen schon für mich zusammengepackt und im Jet verstaut. Je näher wir unserem Ziel kamen, umso nervöser wurde ich. Immerhin hatte ich diesen Job noch nicht lang und jetzt hatte ich direkt einen Täter erschossen. Ich atmete tief durch, dann schaute ich wieder aus dem Fenster und erkannte, dass wir angekommen waren. Officer Sabatino erwartete uns schon, bedankte sich nochmal bei uns dreien und fuhr dann mit dem SUV davon. "Bereit?" Reid schaute mich fragend und leicht bemitleidend an und ich nickte entschlossen. Wir liefen zum Flugzeug und es wurde für uns geöffnet, damit wir einsteigen konnten. Rossi und Morgan saßen bereits, Hotch konnte ich nirgends entdecken. "Gut, dass du wieder da bist. Geht's dir gut?", begrüßte Rossi mich und stand sogar auf, um mich in eine leichte Umarmung zu ziehen. Ich nickte schwach. "Diese Schutzwesten funktionieren echt gut. Der Rest sind nur Kratzer und Kopfschmerzen." "Na dann ist ja gut. Hotch möchte dich sprechen. Er ist nebenan." "Danke." Ich biss mir auf die Lippe, dann lief ich in den zweiten Teil des Flugzeugs, den man mit einer Tür abtrennen konnte. Kaum hatte ich besagte Tür hinter mir geschlossen, drehte mein Chef sich zu mir um, seine Miene war ernster als sonst und das sollte bei Aaron Hotchner etwas heißen! "Dass du ohne jegliche Absprachen gehandelt hast, weißt du. Dass du leichtsinnig dein Leben riskiert hast, weißt du auch. Aber ist dir auch bewusst, dass du damit auch andere gefährdet hast? Die Polizisten vor Ort hatten die Anweisung, sich ans FBI zu halten. Also sind sie bei dir stehen geblieben und wenn Morgan sie nicht weggeschickt hätte, hätten sie sterben oder verletzt werden können. Ich muss das melden! Sowas zieht eine interne Ermittlung nach sich und kann dich deinen Job kosten!" Er atmete tief durch. "So, jetzt hab ich erstmal alles gesagt und du hast die Möglichkeit, mir genau zu erklären, warum du das getan hast." Ich schluckte und senkte den Kopf. "Ich weiß, dass ich egoistisch gehandelt habe. Ich war wütend auf Kingston und ja, ich weiß, dass Wut in unserem Job Schwierigkeiten bringt. Es tut mir Leid, dass ich andere in Gefahr gebracht habe." "Das ist keine Erklärung. Wieso warst du so wütend? Bisher bist du immer ruhig und professionell geblieben, aber heute Nacht habe ich jemand ganz anderen gesehen." Ich biss mir auf die Lippe. "Hotch, es tut mir Leid, aber ich kann es nicht erklären." "Das kann ich so nicht hinnehmen. So ungerne ich dich vor diese Wahl stellen will, aber entweder du erklärst es mir, oder ich melde dich bei Chief Strauss und dann liegt es nicht mehr in meiner Hand." Ich schaute meinen Chef mit großen Augen an, dann seufzte ich leise und schüttelte leicht den Kopf. Hotch räusperte sich. "Du bist ein guter Agent, Dexter. Ich möchte dich ungerne so schnell wieder gehen lassen, deshalb bekommst du Zeit, um es dir zu überlegen. Du kannst mir bis Mittwochabend alles erklären oder-" Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und ich nickte leicht. "Verstanden." "Gut. Dann geh' jetzt und ruh' dich aus. Wir landen in einer Stunde in Quantico."

Erschöpft schloss ich die Haustür hinter mir, Schreie ließen mich sofort wieder wach werden und ich hechtete trotz Schmerzen die Treppe hoch in Lexies Zimmer. Meine Tochter wälzte sich unruhig im Bett hin und her, schrie immer wieder, weinte und schwitzte. Mit wenigen Schritten war ich bei ihr und weckte sie. "Lexie, hey Kleine, aufwachen! Es ist nur ein Traum, nur ein Albtraum." Mit noch immer panisch verzerrtem Gesicht riss Lexie die Augen auf und starrte mich an. Sanft strich ich ihr über die Wange. "Hey mein Schatz, es ist alles gut. Ich bin hier, du bist nicht alleine." Sofort zog meine Kleine mich in eine feste Umarmung und ich ignorierte die Schmerzen, weil ich wusste, dass sie das gerade brauchte. Irgendwann löste Lexie sich von mir und ich küsste sie sanft auf die Stirn. Dann schaute ich auf meine Armbanduhr. "Ich glaube heute lassen wir den Samstag mal ganz ruhig angehen, was meinst du? Pass auf, du gehst jetzt duschen und ziehst dir einen frischen Schlafanzug an und ich gehe ganz kurz ein Buch kaufen, aus dem ich dir dann noch vorlese, okay?" Lexie nickte und während sie im Bad verschwand, stieg ich draußen ins Auto und suchte nach dem nächstbesten Buchladen. Dort angekommen wurde ich glücklicherweise in der Abteilung für Kinderbücher fündig und konnte schnell wieder nach Hause fahren. Dort hatte Lexie es sich in frischen Sachen in meinem Bett gemütlich gemacht. Es war ein extra breites, weil sie öfter bei mir übernachtete, deshalb sagte ich nichts, sondern machte mich schnell selbst frisch und zog mir ein T-Shirt und eine Jogginghose an, bevor ich mich zu meiner Tochter kuschelte. Dann schlug ich das neue Buch auf und begann vorzulesen. "Die großen Sagen von Parzival. Als König Gandin von Anschouwe starb, hinterließ er seinem ersten Sohn Galoës Land, Burgen und Städte. Dem zweiten Sohn Gahmuret aber hinterließ er nichts: Denn so bestimmte es ein altes Gesetz, damit Macht und Reichtum der Könige aus dem Geschlecht der Anschewin niemals geschmälert würden."

Profile Me (Criminal Minds FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt