59. Kapitel

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“Nicht schon wieder so träge!“, schrie mir Sir Mathis vom anderen Ende des Platzes zu, nachdem ich einige Runden gelaufen war und sich meine Schritte verlangsamten.
Ich stöhnte auf und lief schneller, gab aber nach einigen Minuten auf und rannte zu meinem Trainer hinüber.
“Ich mach Schluss für heute, das wird nichts mehr“, teilte ich ihm mit, worauf dieser ein Schnauben von sich gab, aber trotzdem nickte.
Wahrscheinlich war er auch froh, dass das Training zu Ende war und er sich nicht mehr meine unterentwickelte Kampfbegabung geben musste.
Ich lief vom Trainingsplatz in Richtung Parkplatz, wo mich ein Wächter abholen und zurück an die Academy bringen sollte.
Auf dem Weg zog ich eine Flasche aus meiner Tasche und nahm gierig einen großen Schluck Wasser.
Ich konnte nicht sagen was es war, doch heute war ich nicht in der richtigen Verfassung beim Training mein Bestes zu geben. Vermutlich hatte ich mich immer noch nicht davon erholt, dass Ray letzte Woche gestorben war und der Tod meiner Mutter war ja auch noch nicht so lange her.
Da fiel mir ein, dass ich heute eigentlich noch ihr Grab besuchen wollte und beschleunigte meine Schritte etwas.
Plötzlich wurde ich von rechts am Arm gepackt und hinter ein Gebüsch gezogen. Dies ging viel zu schnell um mich zu wehren, sodass ich nur zusammenzuckte und einen spitzen Schrei ausstieß.
“Wäre ich ein Dryadoge, wärst du jetzt tot.“
Mein Gehirn brauchte einen Moment um zu realisieren wer da vor mir stand und mich tadelnd betrachtete.
Es war ein Gesicht, von dem ich nicht erwartet hätte, dieses jemals wiederzusehen.
“Ray?!“
Ich starrte entgeistert und fassungslos in sein prüfendes Gesicht.
“Genaugenommen bin ich das zwar auch irgendwo, aber das tut jetzt nichts zur Sache“, fügte er unbeirrt hinzu, als hätte er nicht eigentlich gerade tot sein sollen.
Mit Argusaugen suchte ich sein Gesicht nach einer Erklärung ab, doch ich fand keine.
War das ein Doppelgänger oder sowas? Aber er redete eins zu eins wie der Ray den ich gekannt hatte.
“Ich dachte du wärst tot!“
Die Erklärung für sein mehr als unerwartetes Erscheinen wollte ich jetzt aber sofort hören!
“Das war ich auch so gut wie...“
“Ray! Ich will jetzt sofort wissen was passiert ist!“
Hatte er denn nicht einmal die leiseste Ahnung, dass sich mein Gehirn gerade alle möglichen Gründe für sein Auftauchen ausmalte und so gut wie alles in Betracht zog?
“Ok, hör mir zu, ich bin ein letztes Mal zu den Dryadogen um Informationen über deren Kriegspläne zu ergattern, jedoch wurde ich aufgrund eines sehr dämlichen Fehlers meinerseits entlarvt und jemand hat einen Pflock auf mich geworfen, der mich fast getötet hätte, mein Herz aber zum Glück um wenige Zentimeter verfehlt hat. Durch den Druck bin ich ins Wasser gefallen. Ich muss einige Minuten weg gewesen sein, denn als ich wieder zu mir kam, war niemand mehr da und ich konnte mich an Land ziehen.“
“Wieso bist du nicht ertrunken?“
Das war höchstwahrscheinlich nicht die einfühlsamte Frage die ich stellen hatte können, aber mir war das Ganze mehr als suspekt.
“Ich bin zur Hälfte Dryadoge, erinnerst du dich?“
“Stimmt, mein Fehler!“
So langsam wurde sauer, dass mein Hirn es nicht schaffte, meine Erinnerung an Ray zu aktualisieren und nicht damit klarkam, dass er  möglicherweise doch noch lebte.
“Ich entschloss mich dazu, mich vorerst zu verstecken und alle in dem Glauben zu lassen, ich sei tot. Sie werden ihre Sicherheitsmaßnahmen nicht verschärfen, wenn ich als Spion beseitigt bin, was uns einen erheblichen Vorteil bringen kann. Wenn sie unvorsichtig werden, kann ich die entscheidenden Informationen bekommen und uns am Ende alle retten.“
“Warum zeigst du dich mir dann? Ist das nicht zu gefährlich? Was wenn du gesehen wirst?“
Das ergab alles keinen richtigen Sinn, was war sein Plan?
“Es ist ein Risiko, aber ich brauche jemanden innerhalb der Academy der mich auf dem Laufenden hält und dem ich alles neu Erfahrene mitteilen kann.“
Er wollte also eine Art Partner...
“Aber warum ausgerechnet ich?“
“Ich vertraue sonst niemandem und es würde jemandem auffallen wenn sich Alice heimlich mit mir treffen würde und im Moment können wir dieses Risiko nicht eingehen.“
Da hatte er nicht ganz Unrecht, der Kanzlerin folgte immer mindestens ein Wächter auf Schritt und Tritt sobald sie die Schule verließ.
Das Ganze war allerdings auch nicht so ungefährlich für mich!
“Weißt du eigentlich was du ihr damit antust, indem du sie im Glauben lässt du seist gestorben?“
“Ich glaube kaum, dass sie meine nervigen und sturen Kommentare sehr vermisst.“
Er grinste sicher und tat sein schlechtes Gewissen mit seinem Humor ab.
Ich warf ihm einen sarkastischen Blick zu. War das sein Ernst?!
“Wie kannst du eigentlich von mir erwarten, dass ich ihr weiter beim Leiden zusehe, obwohl ich dem ein Ende bereiten könnte?“
Ich konnte es meiner Oma auch einfach sagen und sie würde nicht mehr herumwandeln wie ein Geist.
Seit sie davon erfahren hatte, sah sie buchstäblich aus wie einer und bekam offensichtlich bei Weitem viel zu wenig Schlaf ab.
“Ich weiß ich verlange viel von dir und es tut mir leid, aber ich sehe im Moment leider keine andere Möglichkeit, wenn wir einen Vorteil in diesem Krieg haben wollen.“
Ich seufzte.
Natürlich verstand ich sein Anliegen, aber ich war mir noch nicht so ganz im Klaren welche Rolle ich in seinem Plan spielen sollte.
“Du hast Recht. Bist du sicher, dass du weitermachen willst, deine Wunde dürfte nach diesem Pflock noch nicht vollständig verheilt sein?“
Sein Blick verfinsterte sich etwas und er zog unauffällig sein Shirt etwas weiter runter.
“Mir gehts gut!“
Da war ich mir nicht so sicher, doch ich hatte im Augenblick wenig Lust auf eine Diskussion deswegen.
“Wenn du das sagst...“
Er nickte und sprach: “Wir treffen uns am besten nächste Woche nach deinem Training wieder hier, damit wir Informationen austauschen können, in Ordnung?“
Ich bejahte, woraufhin er meinte: “Gut, dann sollte ich mich jetzt verabschieden, bevor dem Wächter dort drüben auffällt, dass du nicht kommst!“
Ich warf ihm einen bedauernden Blick zu.
“Bitte sterb kein zweites Mal!“
“Hab ich nicht vor“, lachte Ray und verzog schmerzerfüllt das Gesicht, da ihm das Lachen anscheinend nicht so gut getan hatte, sodass er seine Hand vorsichtig auf seine Brust hielt. Ich wollte gar nicht wissen wie schlimm die Wunde noch immer aussehen musste!
Schnell umarmte ich ihn vorsichtig und wollte aus dem Gebüsch herausgehen, als er noch einmal sagte: “Sag Alice, dass sie mehr Zeit darin investieren soll, Wächter auszubilden und auch zur Ruhe gesetzte dazu animieren soll, für uns zu kämpfen. Das könnte uns eventuell noch den Arsch retten!“
Damit drehte er sich um und verschwand tiefer im Gestrüpp, sodass er kurz darauf nicht mehr zu sehen war.
Ich schüttelte immer noch ungläubig den Kopf und beeilte mich, zum wartenden Wächter zu gelangen, damit dieser nicht losging und anfing mich zu suchen.
Es war mir allerdings schon ein Rätsel wie Ray den Angriff der Dryadogen überleben konnte, ohne dass einer bemerkt hatte, dass er nicht tot war. Es schien mir fast als hätte er ein wichtiges Detail ausgelassen.

Als ich an der Rosehill Academy angekommen war, ging ich schnurstracks meine Oma aufsuchen, um ihr erstens zu sagen, dass sie mehr Wächter ausbilden soll und sie zweitens nicht ganz allein mit ihrer Trauer zu lassen.
Ich hätte das auch nicht gewollt! Gut, eigentlich hatte ich genau das gewollt, aber das tat jetzt nichts zur Sache!
“Ich habe ja nichts gegen deine Anwesenheit, aber meinst du nicht, dass du etwas übertreibst?“, fragte mich Lady Devone, die gerade ein Telefonat beendet hatte, als ich hereinplatzte.
Sie spielte vermutlich darauf an, dass ich sie heute Morgen vor dem Training gute vier Mal besucht hatte, nur um sicherzugehen, dass sie ok war. Das war vielleicht etwas übertrieben, das musste ich zugeben, aber ich fühlte mich jedes Mal schlecht sie alleine in ihrem Büro zu lassen. Vor allem jetzt, da ich wusste, dass Ray noch am Leben war und ihre Trauer eigentlich umsonst war.
“Ray sagt-“
Ihr Kopf schnellte in meine Richtung und sie sah mich gequält an. Ich riss die Augen auf.
“Sagte, Ray sagte, dass es besser wäre mehr Arbeit in die Ausbildung der Wächter zu stecken“, verbesserte ich mich schnell. Heilige Scheiße jetzt wäre ich beinahe aufgeflogen!
“Soso und wann hat er dir das gesagt?“
Sie öffnete die Tür zu ihrer Wohnung und ging in die Küche um sich einen Kaffee zu machen, während ich ihr folgte und mich auf die Eckbank neben dem Esstisch setzte.
“Kurz bevor er...“, ich ließ den Satz unbeendet, doch sie wusste auch so wovon ich sprach.
“In zwei Tagen kommen bereits die ersten Vampire, die sich zu einem Wächter ausbilden lassen wollen, mir fehlt nur noch der richtige Ausbilder“, sagte sie, während der Kaffee aus der Maschine in eine Tasse lief.
“Kann das nicht einfach einer der Wächter machen?“
“Theoretisch ja, aber den meisten fehlt der benötigte Ehrgeiz und sie müssen vom Rat dazu anerkannt werden“, erklärte sie mir und nippte an der Tasse, als der Kaffee fertig war.
“Dann soll der Rat das halt machen!“
Sie stieß ein Lachen aus. “So einfach ist das leider nicht!“
“Schade...“

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