Der Abschiedsbrief

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Manuel und ich schlenderten langsam, die Finger miteinander verschränkt, durch die ruhigen Straßen unseres Dorfes. Es war nicht viel los. Vereinzelnd sah man ein Auto, einen Trecker oder einen Menschen auf einem Fahrrad, der sein Hund Gassi führte. Das wir von einer alten Dame, die zwei Straßen weiter wohnte, einen skeptischen Blick zugeworfen bekamen, war uns egal. Ich lächelte verliebt. Den ganzen Weg über, bis wir vor Frau Freidungs Haus standen. "Denkst du, sie ist schon wach?", fragte ich Manuel und löste meine Hand von seiner. "Wenn nicht, ist sie es gleich." Entschlossen ging er zur Tür und klingelte. Wartend standen wir dort. Ich bekam schon zweifel, das sie schlief oder gar nicht zuhause war. Doch als ich gerade sagen wollte, dass wir besser doch später nochmal wiederkommen sollten, hörten wir Schritte vom inneren des Hauses und die Haustür wurde geöffnet. Die matten Augen von Frau Freidung sahen uns fragend an. "Nanu, was macht ihr Kinder denn so früh hier?" "Entschuldigen Sie die Störung. Ehm, dürften wir vielleicht..." Ich deutete mit dem Finger leicht in ihr Haus hinein. Frau Freidung sah verwirrt aus, öffnete die Tür jedoch weiter um uns eintreten zu lassen.

So fanden wir uns kurze Zeit später wieder in den selben Sesseln wieder, in denen wir vor paar Tagen noch saßen. Frau Freidung setzte sich auch in ihren. Ihre knochigen Hände legte sie auf ihren Knien ab. "Was wollt ihr?", fragte sie uns. Manuel sah zu mir. Er wollte, dass ich sprach. "Wir und zwei weitere Freunde haben uns auf die Suche nach Horst gemacht." Meine Stimme klang gedrungen. Ich konnte den starren Blick von Frau Freidung kaum standhalten. Ich sah weg. Auf ihre dünnen Finger. "Und wir haben ihn gefunden." Ich schluckte als mir das Bild seines toten Körper wieder in den Sinn kam. 

Stille trat ein. Vorsichtig sah ich auf. Die grauen matten Augen von ihr glänzten. Aber es war keine Freude. Nein, es waren Tränen. "Ihr habt ihn gefunden?" Ihre Stimmte zitterte. Langsam holte ich den Abschiedsbrief aus meiner Hosentasche. "Er hatte das in seinem Rucksack." Ich stand auf und reichte ihr den Zettel. Gleich darauf setzte ich mich wieder. Es tat mir weh sie so leiden zu sehen. Auch, wenn sie Fremd war. Ihr Schicksal und das Schicksal von Horst. Es war grauenvoll. 

Frau Freidung faltete den Zettel auf. Sie schien Schwierigkeiten damit zu haben. Manuel und ich tauschten einen undefinierbaren Blick aus. Dann sah ich wieder zu Frau Freidung. Sie hatte den Zettel aufgeklappt und las sich das geschriebene ihres Sohnes durch. Ihre Lippen bewegten sich mit, als sie still für sich las. Ihre Augen wurden dabei nasser und nasser, bis eine stille Träne aus ihrem Auge über ihre Wange rollte. 

Als sie fertig gelesen hatte, wirkte sie klein und zerbrechlich. Ihre Hand, mit der sie den Zettel festhielt, sackte auf ihren Schenkel. "Erlaubt ihr euch einen Spaß damit?", fragte sie uns dann. Mit der anderen Hand wischte sie sich ihre Wangen trocken. "Nein." Manuels Stimme war fest. Frau Freidung sah ihn an. "Der Brief ist wirklich von Horst." Ich nahm das Portmonee aus meiner anderen Hosentasche, stand abermals auf und gab es ihr. Mit zitternden Fingern nahm sie es entgegen. "Das ist seins." Nun schluchzte sie auf. Das Portmonee in ihrer Hand, was ihrem toten Sohn gehört. Sie umgriff es fest. "Wo ist mein Kind?", fragte sie bitterlich. Auch ich kämpfte mit den Tränen. Eine alte Frau so zu sehen war schlimm. Und auch Manuel sah so aus, als könnte er weinen. Gerade er, der sonst nie trauer zeigte. "Er schläft seit Jahren. In einer Höhle bei Burg Neuenberg." Manuel redete leise. Ich hätte vermutlich kein Wort raus bekommen. "Er ist wirklich tot." Sie wischte sich noch einmal die Tränen von ihrer faltigen Haut. "Und er hat ihn wirklich umgebracht." Sie sah auf den Zettel. "Uns tut das alles so leid", sagte Manuel. Frau Freidung sah auf, in sein Gesicht. Dann in meins. Zurück auf den Zettel. "Danke Jungs. Nun habe ich Klarheit. Aber ihr solltet gehen. Ich brauche meine Ruhe." Sie legte den Zettel und das Portmonee auf der Armlehne ab und stand auf. Auch ich erhob mich. Manuel blieb kurz noch sitzen, ehe auch er aufstand. 

Frau Freidung brachte uns zur Tür. "Passt auf euch auf. Und geht nicht in irgendwelchen Höhlen hinein." Frau Freidung lächelte uns leicht an. Doch ihre Augen blieben gebrochen. "Wir versprechen es", antwortete Manu und lächelte. Er versuchte regelrecht zu strahlen. Vermutlich wollte er sie aufmuntern. Vergebens. "Tschüß Kinder." Sie schloss die Tür. Manuel und ich sahen uns an. Wir beide konnten nicht mehr tschüß sagen. "Denkst du das war die richtige Entscheidung?", fragte Manuel. Ich drehte mich um und ging voran. Ich wollte das Grundstück verlassen. "Ich hoffe es", nuschelte ich. Ich hoffte es wirklich. Für Frau Freidung.

Sommer 1983 / Kürbistumor&ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt