Eine Entdeckung

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"Also, schauen wir mal nach, ob es hier noch irgendwie raus geht." Ich lächelte Manu an, der seine Hände vom Gesicht sinken ließ und mich mit weinerlichen Augen ansah. Er war immer der starke Manuel, der sich kein Leid ansehen ließ. Doch heute, da war er Weich. "Geh du vor", sagte er. Ich grinste und drehte mich um. Der Lichtkegel der Taschenlampe strahlte nach vorne. Dann drehte ich meine Hand. Links, rechts. Da war ein kleiner Durchgang. "Schau." Ich deutete mit dem Kopf voran. "Ja, los." Manuel griff an mein Handgelenk. Erschrocken sah ich zu seiner Hand, die fest um mein Gelenk geschlossen war. "Was denn? Ich habe Angst." Er lachte unbeholfen, ängstlich und frustriert. "Schon okay", murmelte ich und ging los. 

Es schien, als wäre es ein zweiter Raum. Manuel hielt mich noch immer fest, als ich erschrocken stehen blieb und er gegen mich stolperte. "Was hast du?", fragte er. Ich konnte nichts sagen. Dort, auf dem staubigen Boden, lagen ganz viele alte Glasflaschen, Dosen, große Steine und etwas Asche. Als hätte jemand hier, in dieser Höhle, ein Lagerfeuer gemacht. "Ach du heilige." Manuels Stimme war gedrungen. Neben diesem kleinen Lagerfeuerplatz lag jemand. Meine Hand fing an zu zittern. Manuels Hand, die sich nun noch fester um mein Handgelenk legte, fing an zu schwitzen. "Ist das", fing ich an. "Ja, das ist vermutlich Horst." Manuel fiel mir ins Wort und beantwortete meine Frage, ohne dass ich sie ausgesprochen hatte. "Sieh mal nach." Sachte stupste Manuel mich an und ließ mich los. "Ich?" Ängstlich sah ich den schlafenden Menschen an. Ich wollte mir einreden das er schlief, auch, wenn er vermutlich schon Jahre tot war und durch die Klimazustände, hier in der Höhle, so gut erhalten war. "Wie lange ist er schon tot, was denkst du?", fragte Manuel. Ich zuckte mit den Schultern. Langsam, schritt für schritt, trat ich auf den toten, den schlafenden Menschen, zu. Er lag auf einer dünnen Decke. Über ihn war eine zweite. Unter seinem Kopf ein Rucksack.

Mit wackeligen Beinen hockte ich mich neben den Kopf. Meine Augen wurden nass, als ich das noch so gut erhaltende Gesicht sah. Es sah aus, als schliefe er. Vermutlich war er im Schlaf gestorben. Ganz allein, hier im Dunkeln. 

Manuel kam zu mir und hockte sich neben mich. "Das ist echt traurig", sagte er leise und legte eine Hand auf meine Schulter ab. "Vermutlich ist er, so wie wir, hier reingefallen und nie wieder raus gekommen." Ich stutzte. "Das kann nicht sein." "Wieso?" Fragend sah Manuel mich an. "Hatte Frau Freidung nicht erzählt, er sei gleich nach seiner Entlassung weggelaufen, aber die Polizei hat seine Spur verloren?" Manuel nickte. Doch sein Blick sprach nur Fragezeichen aus. "Wie kommen dann die Hefte in das alte Haus? Er muss hier in der Höhle unterschlupft gesucht haben, wieder raus gekommen sein, zur alten Waldhütte gegangen sein und wieder zurück. Aber wie ist er hier rausgekommen?" Letzteres murmelte ich fragend zu mir selbst. Grübelnd rieb ich mir die Augen. "Dann muss es wirklich einen Weg hier raus geben", meinte Manuel. "Lass uns weiter schauen." Er richtete sich wieder auf. Er hatte recht. Wenn wir nicht nach einer Möglichkeit suchten, würden wir so enden wie der Horst. 

Manuel stand hinter mir, während ich den Toten noch ansah. "Vielleicht hat er was im Rucksack, was auf seine Identität zurückführt", sagte ich. "Du kannst dem doch nicht den Rucksack unter dem Kopf raus ziehen. Der fällt doch auseinander." Manuel war empört. Doch ich griff den Rucksack und öffnete die Lasche so vorsichtig wie möglich. Bedacht darauf, kein Mal gegen den toten Körper zu kommen. In seinem Rucksack fand ich tatsächlich ein Heft und auch sein Portmonee. Dort drin war ein Ausweis. "Er ist es", sagte ich, als ich den Namen durchlas. Das Bild auf dem Ausweis. Ich sah den Toten an. Das war Horst. Ein schauer lief mir über den Rücken. "Das sollten wir seiner Mutter bringen. Dann hat sie Gewissheit." Ich steckte das Portmonee in meinen eigenen Rucksack. Dann schlug ich das Heft auf, was ich herausgezogen hatte. "Was steht drin?", Manuel sah mir über die Schulter.

Auf dem abgeranzten Heft, war noch die Schirft zu erkennen. Es war mit Tinte geschrieben, an manchen Stellen ausgeblichen. Ich musste die Augen leicht zukneifen, um die Worte entziffern zu können. Die Überschrift trug den Satz "Es tut mir leid". Fragend sah ich Manu an, der selbst nur verwirrt aussah. "Lies vor", sagte er. Ich nickte und fing an, laut zu lesen.

"Ich, Horst Freidung, bin nun seit einer geraumen Zeit auf der Flucht vor der Polizei. Ich weiß nicht, ob sie wissen, was ich getan habe oder es nur noch vermuten. Ich weiß nicht, ob meine geliebte Mutter weiß, dass ich schuldig bin. Ja, ich habe ihn erschossen. Und ich bereue es. Es tut mir leid sein Leben genommen zu haben und das seiner Familie und Freunde zerstört zu haben. Wenn ich könnte, würde ich meine Tat rückgängig machen. Doch ich bin zu Feige, um mich zu stellen. Ich habe zu große Angst davor, was mich im Gefängnis erwartet. Ich wäre lieber Tot, als dort, zwischen Leuten, die noch viel schlimmeres getan haben. Ich habe so große Angst davor, dass ich mich bedeckt halte und niemanden erzählt habe, dass ich noch Lebe. Nicht mal meiner Mutter habe ich das erzählt. Oft frage ich mich, ob sie noch an mich denkt und hofft, dass ich noch am Leben bin oder ob sie sich wünscht, dass ich tot bin." Ich stockte beim Lesen. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Es war traurig, was Horst hier schrieb. "Weiter." Manuel stupste mich an. Ich leckte meine Lippen kurz an und fuhr fort. "Ich bin ein Mörder und das sitzt mir schwer auf den Schultern. Damit kann ich kaum Leben. Dieses Leben will ich nicht. Es ist einsam und jeden Tag aufs Neue bereue ich das, was ich getan habe. Es ist eine Last, die ich nicht entfernen kann, außer ich beende mein eigenes Leben, so wie das von meinem Schulleiter. Ich gestehe die Tat, seinen Mord. Anbei möchte ich mich bei jedem Entschuldigen, den ich damit unglücklich gemacht habe. Und natürlich geht auch eine Entschuldigung an meine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Ich liebe dich, Mama." 

Manuel und ich sahen uns an. "Das ist..." Ich konnte nicht weiterreden. "Wir haben einen Mord aufgeklärt", murmelte Manuel. Ich biss mir auf die Unterlippe und packte das Heft, zusammengerollt, in meine leere Brotdose. "Wir sollten es nur Frau Freidung sagen. Sie sollte entscheiden, ob die Wahrheit ans Licht kommt oder nicht." Ich ging an Manuel vorbei. "Ernsthaft?" Aufgebracht folgte er mir. "Ja, ernsthaft. Manu, wir sollten uns jetzt Gedanken drum machen, wie wir hier rauskommen." Er seufzte. "Ja, hier ist ja nichts außer das Loch, wo wir hergekommen sind. Und da kommen wir nicht hoch." Ich sah nochmal auf Horst herab und biss mir auf die Zunge. Dann hörte ich ein Geräusch. Ich lauschte. "Das ist doch" "Sei Still!", meckerte ich Manuel an. Dieser schwieg sofort. "Komm." Ich ging an Horst vorbei und folgte dem Plätschern. Je weiter ich den kleinen Nebenraum erkundete, desto lauter wurde es. Und dann sah ich ein weiteres Loch. Ängstlich tapste ich an es heran. "Pass ja auf", sagte Manuel und hielt mich am Rucksack fest. Ich leuchtete herab und sah nichts als schwärze. Ganz unten schien was zu glitzern. Wasser.

Sommer 1983 / Kürbistumor&ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt