Sie ist weder laut noch leise, weder groß noch klein. Ihre Haare sind nicht wellig und auch nicht glatt, ihr Gesicht nicht rund, aber auch nicht oval. Ihre Beine sind nicht kurz oder lang, ihre Oberweite weder füllig noch flach. Ihr Kleidungsstil kann nicht als bunt beschrieben werden, aber auch nicht als farblos und fade, nicht als elegant oder sportlich. Weder hoch noch tief ist ihre Stimme, nicht sanft und nicht hart, selbst als leise oder laut kann sie nicht bezeichnet werden. Hazel ist in ihrer Normalität und Mittelmäßigkeit so perfekt, dass das Wort durchschnittlich doch nicht mehr zu passen scheint. Sie wirkt auf ihre nicht außergewöhnliche Weise einzigartig, sie ist die einzige Person, die es schafft, das Mittelmaß interessant erscheinen zu lassen. Es wird nicht langweilig sie anzusehen, nicht langweilig mit ihr zu sprechen. Das Einzige, das aus dieser Anhäufung an Unbesonderheiten heraussticht, sind ihr Name und ihre Haltung, die viel gerader ist als die des Durchschnittes ihrer Altersklasse.
„Eva Brodner und Liam Evan werden Harvey Bund parallel therapieren, einfach damit wir so schnell wie möglich Resultate erhalten. Während sie mit ihm reden wird immer einer unserer Kollegen zu ihrer Sicherheit anwesend sein, falls Ihnen irgendwas komisch vorkommt, bitten sie diesen die Sitzung zu unterbrechen. Es besteht allerdings keine Gefahr, da der Häftling die ganze Zeit über Handschellen trägt und Sie in sicherer Entfernung von ihm sitzen. Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?″
„Nein habe ich nicht, danke."
Hazel schluckt ein paar mal, als der ältere, nach Seife riechender Mann sich umdreht und mit einem seiner Kollegen redet, bevor er ihr deutet ihm zu Folgen und losläuft.
Hazel läuft los, den Blick auf die grauen Betonwände gerichtet, die immer höher zu werden scheinen, sich immer weiter Richtung Himmel strecken.
Der Notizblock scheint mit jedem Schritt schwerer in ihrer Hand zu werden, ihren Arm nach unten zu ziehen um sie so hier an Ort und Stelle festzusetzen. Der Geruch ist frisch, es riecht nach Putzmittel, man erkennt ihn nicht sofort, hält ihm am Anfang für etwas Stinkendes statt erfrischendes. Ihre Schritte hallen in der Stille wieder, wie ein gesangloses Konzert der Unruhe. Ihre Schritte sind taktlos, schnell, in ihren eigenen Ohren klingen sie aufgeregt und ängstlich. Der Geruch ihres Schweißes und Parfums vermischen sich so sehr, dass es unmöglich zu sagen ist, ob sie gut oder schlecht riecht. Hazel fühlt sich wie beim Start in einem Flugzeug, der Körper nach hinten gepresst, der Druck steigt bis alles abfällt und ein lautes, schrilles Piepsen hinterlässt. Sie fühlt sich wie an ihrem ersten Schultag, den viel zu großen Rucksack auf den Rücken und die pralle Schultüte in der Hand, aufgeregt und nicht ahnend was sie erwartet.„Ich habe doch eine Frage.."
„Ja?″
„Wie ist er so?″
Der Mann bleibt stehen, dreht sich zu ihr um und kratzt sich am kahlen Kopf.
„Ziemlich ruhig. Bis auf ein paar Sätze hat er gar nicht gesprochen.„
Hazel weiß nicht was sie von dieser Antwort halten soll, deshalb nickt sie einfach nur kurz bevor sie weiter laufen, immer weiter den langen Flur entlang.
Der Mann bleibt stehen, öffnet eine schwere Metalltür, hinter der ein kleiner Vorraum wartet, in dem sich eine weitere Tür befindet hinter der, der Häftling sitzt.
„Ich werde sie jetzt alleine lassen, aber der bereits erwähnte Kollege ist schon drinnen", sagt der Mann noch bevor er die Tür öffnet und Hazel ein letztes Mal ansieht, bevor sie in den mittelgroßen Raum tritt.
Ihr Blick richtet sich auf ihn, dem Mann den sie schon seit Wochen, Monaten in den Nachrichten sieht. Sie erkennt nicht viel, da Harvey seinen Kopf auf einer seiner Hände abgestützt hat und so nur sein leichter, dunkler Lockenkopf zu sehen ist. Der Sicherheitsmann lächelt ihr aufmunternd zu, als sie an ihm vorbeigeht, trotzdem kann sie Anspannung in der Luft spüren.
Stumm legt sie ihren Notizblock auf den Tisch, schiebt sich den Stuhl zurecht und sieht dann ihr Gegenüber an. Noch immer kann sie sein Gesicht nicht sehen, was sie aber nicht daran hindert dort hinzusehen, wo sein Gesicht sein müsste.
„Mein Name ist Hazel Moore, ich bin Ihre Psychiaterin.„
Aus Gewohnheit hätte sie fast ihre Hand ausgestreckt, kann sich aber in letzter Sekunde noch fangen, bevor es zu einer peinlichen Situation kommt.
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Tick
Teen Fiction2092, zwei Jahre vor Hazel Moores Geburt wurde Sulion, ein Heilmittel gegen Krebs, erfunden. Die Menschheit wächst, so schnell und so stark, dass kaum noch freie Fläche auf der Welt existiert. Die menschliche Rasse besteht aus 12 Milliarden Mensch...