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Fünfzig Minuten Verspätung, liest Hazel als sie vor der Anzeigetafel steht. Ihre Laune sinkt immer weiter, als nicht nur die Wartezeit an ihren Nerven zieht, sondern auch die viel zu schwere Tasche an ihrer Schulter.
Vor lauter Menschen ist der Boden des Flughafens kaum noch zu sehen, der mit einigen Rissen durchzogen und längst verdunkelt ist. Statt in einem hellen Grau zu Strahlen, ist der Boden dunkelgrau, dass so matt ist das er Nichtmal frisch geputzt einen Hauch von einem Glanz besitzt. Aber durch die vielen Schuhen und Koffer, die jeden Tag über genau diesen Boden laufen und geschoben werden, fällt die trist Lose Farbe gar nicht mehr auf. An die unzähligen Menschen hat sich Hazel schon längst gewöhnt, egal wo man hinläuft oder hinsieht, überall sind Menschen.
Die Ameisen der Neuzeit. Sie zieht ihren Koffer hinter sich her, als sie durch die Flughafenhalle läuft, ihr Flugticket fest ihn ihrer Hand. Ununterbrochen sind verzerrte Durchsagen zu hören, von denen sie nur die Hälfte versteht, wenn überhaupt. Immer wieder sieht sie auf ihre Uhr, ungeduldig und genervt. So schnell wie möglich will sie San Francisco hinter sich lassen und die geplatzte Chance, die die Stadt mit sich gebracht hat. Die blauen Sitze sehen nagelneu aus, das Leder ist weich.
Das Blau erinnert Hazel an die Bussitze, die sie nach ihrer Ankunft in Kanada erwarten werden, was ein wohliges Gefühl in ihr auslöst. Ein warmes Kribbeln, welches von ihren Zehenspitzen über die Magengegend bis hin zu ihren Wangen wandert. Die Frau, die neben ihr sitzt, riecht nach süßem Parfum, das einem die Nase rümpfen lässt und in den Nasenflügeln kitzelt, sich in der eigenen Kleidung festsetzt und den eigenen Verstand vernebelt. Ihr gefällt der Geruch, weil er den Geruch ihres Angstschweißes vor dem Start überdeckt. Stocksteif sitzt sie da, während das Flugzeug abhebt und sie in ihren Sitz drückt, keinen Mucks von sich gebend. Erst als der Druck verschwindet, kann sie wieder ein und ausatmen.
Ein Blick durch das Fenster riskiert sie nicht, dafür ist ihre Flugangst dann doch zu groß und zu stark. Um sich abzulenken, fängt sie an ein Buch zu lesen, kein so gutes, dass es eine Verschwendung wäre es als Zeitüberbrückung zu lesen. Das Papier raschelt, wenn sie eine Seite umblättert und ihre Nachbarin fängt das Schnarchen an, was den Geräuschen einer Bohrmaschine ähnelt.
Sie muss zwei Runden abwarten bei dem Gepäckband um ihren Koffer, den sie mit einem rotem Band verziert hat, zu erwischen. Der Mann der hinter ihr wartet, schon älter und eine Brille tragend, seufzt entnervt als sie ihren Koffer hochhebt und den schwarzen Griff ausfährt. Hazel unterdrückt es ihre Augen zu verdrehen als sie an ihm vorbeiläuft und ihren Koffer hinter ihr herrollt.
Ihre erste Handlung in ihrer Wohnung, in einem der vielen Wolkenkratzer, ist es alle Fenster aufzureißen und sich auf den erhitzenden Boden zu setzen. Erschöpft streckt sie ihre Arme und Beine aus und tritt dabei den Koffer aus ihre Reichweite. So bleibt sie liegen, starrt auf ihre weiße Decke und freut sich, endlich Zuhause zu sein. Endlich alleine zu sein und wieder in ihrem Alltag zu leben, keine Überraschungen oder Ungewöhnlichkeiten mehr. Ihre Kehle ist trocken, von dem ganzen Staub der aufgewirbelt wird als sie die Vorhänge wieder zu zieht und sich streckt. Ein Gelenk nach dem Anderen knackst dabei, so laut, dass sie kurz danach zusammen zuckt.
Ein Stapel an Post liegt auf ihren Esstisch, gleich neben der Obstschüssel deren Farbe vor lauter Staub kaum zu erkennen ist.

Erst jetzt fällt Hazel auf, dass sie ein Mitbringsel oder Geschenk für Loren, ihre Nachbarin, vergessen hat. Diese hat sich in ihrer Anwesenheit um die Wohnung und ihre Post gekümmert, was bestimmt einige Zeit in Anspruch genommen hat und deshalb eine Wiedergutmachung verdient hat. Es ist noch nicht spät, gerade erst Nachmittag, also beschließt sie nochmal loszuziehen und den Blumenstand, direkt vor der Ubahnstation, einen Besuch abzustatten. Es regnet als sie auf den Fußgängerweg tritt, weshalb sie sich ihre Kapuze über den Kopf zieht und ihren Schritt beschleunigt. Ein paar nasse Haarsträhnen kleben ihr im Gesicht, als sie vor dem Stand stehen bleibt. Eine durchsichtige Plane verhindert es, dass die Pflanzen und Hazel durchnässt werden, als sie eine Orchidee hochhält und sie in ihren Händen dreht. Sie stellt die Pflanze wieder weg und hebt dafür einen Kaktus hoch, der schon einige kleine lila Blüten trägt. Ihre linke Hand zittert wegen des Gewichts, als die rechte Hand den Topf loslässt und sie nach ihrem Geldbeutel greift. Die füllige Frau lächelt sie freundlich an als sie ihr das Wechselgeld und eine Tüte reicht, den Blick schon auf den nächsten Kunden gerichtet. Sich umdrehend steckt sie ihr Portmonee wieder in ihre Jackentasche und zieht ihre Kapuze über ihr Haar.

„Hey, wir bieten heute freie Getränke an, da unser Jubiläum ist. Unser Restaurant ist gleich auf der anderen Straßenseite″
Hazel kann gar nicht reagieren, so schnell hat der junge Mann den Text ab gerattert und ihr einen Flyer in die Hand gedrückt, auf dem der Name Gazini gedruckt wurde. Sie ist nur noch in der Lage dem schon wegeilenden Mann ein Danke hinterherzurufen, das in dem ganzen Lärm um sie herum verloren geht. Ihr Blick bleibt an dem kleinen Restaurant hängen, vor dem mehrere Leute stehen, die anscheinend die Speisekarte lesen. Kurz überlegt sie, bevor sie mit vier großen Schritten die Straße überquert und sich in der kurzen Schlange einreiht. Warme, stickige Luft schlägt Hazel entgegen, begleitet von dem Geruch nach Essen und Rauch als die Tür hinter ihr zufällt. Ein paar Köpfe drehen sich zu ihr und den anderen neuen Gästen um, aber niemand hält sich länger mit ihr oder den Anderen auf. Viel zu abgelenkt sind die schon sitzenden Gäste von der Band, die hinten links auf einer äußerst schmalen Bühne spielt.
Sie entscheidet sich für einen Ecktisch, von den man sowohl den Eingang als auch die Band im Blick hat. Der Stuhl knarzt als sie sich auf ihn fallen lässt um anschließend die Karte zu sich heranzuziehen. Ihre Augen wandern die Reihe der Getränke und Gerichte auf und ab, bis der Stuhl gegenüber von ihr zurückgeschoben wird. Hazel hebt ihren Blick und sieht direkt in das Paar Augen, von dem sie dachte es so schnell nicht wiederzusehen.
Harvey Bund sitzt direkt vor ihr, greift nach der zweiten Speisekarte und lässt sie nach vorne und nach hinten gleiten auf der flachen Tischplatte.
„Hi"
Sie kann gar nichts antworten, egal wie sehr sie versucht ihre Lippen zu bewegen oder sich selbst zu kneifen, ihr Körper ist nicht imstande irgendwas zu tun. Blass starrt sie ihn an, ihr Griff um die Speisekarte verkrampft sich immer mehr, desto länger sie sich ansehen. Zitternd lässt sie die Speisekarte fallen und zwingt sich tief ein und auszuatmen, bevor sie Harvey antwortet.
„Was machen Sie hier?″
Er hört auf die Speisekarte vor und zurückschnellen zu lassen, als er ihre Worte hört und lehnt sich vor, so nah dass Hazels Duft den Geruch der Küche überdeckt.
„Ich will mit dir reden.″
Sie will aufstehen als sie das hört, dass Restaurant verlassen, über die Straße rennen und in ihre Wohnung, aber sie bleibt sitzen und schluckt das Gefühl des Schocks und der Panik hinunter.
„Wie hast du mich gefunden?″
„Ich hab dich nicht gefunden, ich weiß, wo du wohnst, das wusste ich schon lange bevor ich im Gefängnis war. Erinnerst du dich an eine Emilia Roden?″
Emilia. Hazel hatte in ihrer Kindheit viele Freundschaften, aber keine konnte mit ihrer und Emilias mithalten. Niemand kann mit dem Mädchen mithalten, dass sie ihre Freundin nennen durfte. Mit ihrem Scharfsinn, ihrem Humor oder die Eigenschaft jeden wohl um sich fühlen zu lassen. Es gab keinen Tag oder Zeitpunkt an dem Hazel sich hätte vorstellen können jemals sauer auf ihre Freundin zu sein, es ging einfach nicht. Sie nicht zu mögen ist unmöglich.

Emilia hat sich nie über zu viele Hausaufgaben beklagt oder wenn sie fälschlicherweise beschuldigt wurde etwas angestellt zu haben, sie hat es hingenommen ohne eine Spur wütend oder nachtragend zu sein.
„Ja", ist das einzige, was Hazel dazu sagen kann, da sie nicht mehr das glückliche Mädchen vor ihrem Auge sieht, sondern den Sarg, in dem Emilia begraben wurde. Ihr Gegenüber nickt, eher selbst fällig als bestätigend bevor er weiter fortfährt.
„Ich hab sie gekannt, sehr gut so gar. Deshalb kenne ich auch ihre Krankenhausakte. Wenn du willst, kannst du sie lesen, ich habe sie dabei.″
„Wieso sollte ich ihr Akte lesen wollen? Ich weiß, wieso sie gestorben ist.″
Hazel war neunzehn als Emilia in ein Krankenhaus eingewiesen wurde und zwei Monate nach ihrer Ankunft starb.
An jedes kleinste Detail kann sie sich erinnern, an die Stimme des Arztes, den Geruch des Putzmittels mit dem sie die Flure gereinigt haben, und das Geräusch der Rollen der Liegen.
„Das stimmt, teilweise. Sie ist gestorben aufgrund von Herzversagen das ist richtig, aber ein Spenderherz hätte sie retten können, richtig?″
„Ja, aber es gab kein passendes.″
Harvey lehnt sich wieder ein Stück zurück, dabei fallen ihm seine Haare ins Gesicht und seine Augen wandern kurz nach links und rechts.
„Das war offiziell angegeben, allerdings gab es ein Spendenherz, so gar zwei.″
Auf die Akte starrend, die Harvey in dem Moment über den Tisch schiebt, schüttelt sie den Kopf.
„Wieso hätten die Ärzte sie sterben lassen? Das würde keinen Sinn ergeben.″
„Sie kam aus einer sozial schwachen Familie, hatte keinen Schulabschluss und keinen Nutzen für die Gesellschaft. Die Ärzte haben sich dagegen entschieden sie zu retten, weil es von der Regierung vorgegeben ist, um die Überpopulation einzuschränken. Deshalb werden unschuldige Menschen getötet, deshalb ist Emilia gestorben.″
Hazel möchte lachen als sie seine Worte hört, die niemals stimmen können, aber das Lachen bleibt ihr in der Kehle stecken als sie seinen Blick sieht und auf die Akte, die vor ihr liegt, blickt.
„Schau rein.″


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