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Ohne groß nachzudenken, läuft sie auf eine der engen Gassen zu, ob Harvey, Josephine, Luna oder Runa ihr folgen weiß sie nicht. Sie muss auf den Boden sehen um nicht über Holzkisten oder anderen Müll zu stolpern. Ihr Herz rast genauso schnell wie sie ihre Schritte setzt, als sie scharf nach links abbiegt. Mittlerweile kann sie die Schritte der Anderen hören, das Geräusch der Helikopterblätter ist verschwunden, trotzdem wird sie nicht langsamer. Das Adrenalin in ihrem Blut hat die Kontrolle übernommen. Die Häuser verschwimmen vor ihren Augen, werden eins mit dem grellen Licht der Lampen. Erst als sie das Ende der Abzweigung erreicht, die vor ihr wieder auf eine der großen Straßen führt, bleibt sie stehen und dreht sich zu den Anderen um. Josephine, Runa und Harvey fehlen, nur Luna kommt vor ihr zum Stehen. „Wir haben uns aufgeteilt, die Anderen sind im Stadtkern geblieben. Harvey schickt jemanden der uns holt, wenn es einigermaßen sicher ist", sagt Luna und stützt sich auf ihren Oberschenkeln ab um besser Luft holen zu können. Es scheint alles aus dem Ruder zu laufen. „Wieso machst du das?″ Hazels Brust schmerzt, als sie die Worte ausspricht.

„Wieso hilfst du Harvey?″, stochert Hazel weiter, während sie sich über ihr rot angelaufenes Gesicht streicht. Luna antwortet ihr nicht, schüttelt nur den Kopf als Zeichen dafür, dass die Frage nicht passend ist. Nicht jetzt, nicht in diesem Moment. Dabei erscheint in letzter Zeit gar nichts passend, keine Frage, keine Antwort und keine Entscheidungen, die getroffen wird.
Für eine Weile lauscht sie ihrem Herzen, das wie ein junger, unbeholfener Vogel in ihrer Brust flattert. Konzentriert sich auf die Häuserfassaden, dessen Anstrich grau ist und bröckelt, als Zeichen des verlorenen Kampfes gegen Abgase und schlechtes Wetter. Starrte ihr Spiegelbild an, dass sich in einem der staubigen Fenster abzeichnet, bis das Bild vor ihr verschwimmt. Die blonden Haare und die helle Haut ineinander überlaufen, zu einer Masse werden, aus denen zwei stumpfe Augen ragen. Der Geruch nach Schmutz und Verwesung beißt in ihrer Nase, als sie sich auf den Boden setzt und ihre Beine ausstreckt. Wieso Luna ihre Karriere weggeworfen hat, um Harvey zu helfen kann sie sich nicht erklären. Wäre sie so erfolgreich, würde sie für so gut wie nichts in der Welt riskieren ihr Vermächtnis zu verlieren, besonders nicht für etwas so riskantes.

Vielleicht weiß Luna mehr, kennt einen Grund, wieso es sich lohnt sein Leben für Harvey und Tick zu riskieren. Selbst, wenn würde sie es Hazel nicht sagen. Anscheinend will ihr niemand irgendwas sagen, sonst wüsste sie was sie jetzt zu tun hat und würde nicht in auf dem Boden irgendeiner Gasse in Mexiko sitzen. Ihre Haare sind verknotet und staubig, als Hazel versucht sie sich hinter ihre Ohre zu stecken. Ihr Aussehen war ihr noch nie sonderlich wichtig gewesen, ihr war es lieber nicht aus der Masse zu stechen, sich so schlicht zu kleiden, dass niemand etwas dagegen sagen konnte. Aber ihr Spiegelbild in dem dreckigen Fenster sieht so stumpf und hässlich aus, dass es selbst sie stört. Nichtmals die von der Anstrengung geröteten Wangen schaffen es sie lebendig aussehen zu lassen.

Lärm unterbricht ihre Gedanken. Lärm der sich anders anhört als vorher, lauter und um einiges näher. Luna und sie warten erst seit einer viertel Stunde, es ist unwahrscheinlich, dass die Lage sich so schnell beruhigt hat. Wer auch immer auf sie zukommt, wurde nicht von Harvey geschickt. Hazel sieht neben sich, Luna ist hier, folglich werden sie wissen, dass auch Hazel in Verbindung mit Harvey steht. Und wieso ist Luna versteckt mitten in einer engen Gasse, mit einer anderen Frau? Weil die Frau beschützt werden muss, sie und ihre DNA. Wenn die Fremden nicht dumm sind kommen sie zu demselben Schluss.

„Wir sollten abhauen", sagt Hazel so leise, dass nur Luna ihre Worte versteht. Luna schüttelt als Antwort den Kopf. „Nein, wir müssen hier warten, sonst finden wir nicht mehr zu den anderen.″
„Hörst du nicht die Schritte? Ich glaube nicht, dass Harvey so schnell jemanden zu uns geschickt hat.″ Luna wird blass im Gesicht, erstarrt als sie endlich Hazels Sorge begreift. Beide schweigen, bis sie das Geräusch der vielen Schritte von dem restlichen Lärm isolieren können. Es ist lauter als vorhin, viel Zeit bleibt ihnen nicht mehr. „Ich weiß nicht, ob es einen anderen Ausgang gibt oder die anderen Abzweigungen in eine Sackgasse führen.″ Panik schwingt in ihrer Stimme mit, die Hazels Herz noch schneller schlagen lässt. „Besser wir versuchen es, als hier zu bleiben, lauf!″ Keine Sekunde zu früh verlassen die Worte Hazels Lippen. Sie setzten sich wieder in Bewegung, das Geräusch der Schritte ihrer Verfolger vermischt sich mit ihrem eigenem Keuchen. Staub wirbelt auf als sie durch die Gasse rennen, die Hitze treibt ihnen den Schweiß auf die Stirn und die Luft rauscht in ihren Ohren, als sie eine der drei Abzweigungen nehmen. Es bleibt keine Zeit sich Gedanken zu machen was der richtige Weg ist, sie entscheiden sich einfach.

Ihre Angst ist zu groß um einen Blick nach hinten zu riskieren, zu sehen, ob ihre Verfolger schon in Sichtweite sind. Das Adrenalin lässt Hazel ihre Schöpfung vergessen, als sie Luna überholt. Vor ihnen taucht eine Wand auf, sie haben die falsche Entscheidung getroffen. Eine Sackgasse. Die Angst ausblendend denkt Hazel nach, sieht sich um, versucht einen Ausweg zu finden. Wand, Kisten, Häuser, Verfolger. Die Worte wiederholen sich in ihrem Kopf immer wieder, bis sie sich einbildet sie in der Luft schweben zu sehen. Häuser. Hazels Blick fällt auf eine der heruntergekommen Gebäude, dass nur durch morsche Bretter und dreckige Fenstern von der Außenwelt geschützt ist. „Das Haus.″, mehr Wörter bringt sie nicht heraus, als sie auf die Fassade zurennt. Luna scheint ihr Vorhaben zu verstehen, ihre zierlichen Hände schließen sich neben Hazels um die Holzbretter und fangen an zu ziehen. Mit ihrem gesamten Gewicht stemmen sie sich gegen die Bretter, bis sie nachgeben und der Weg in das Haus frei ist. Die Luft schlägt ihnen wie eine zweite Wand entgegen, der Gestank ist bestialisch und treibt ihnen die Tränen in die Augen. Viel Zeit haben sie nicht um sich Orientierung zu verschaffen. Luna entscheidet dieses Mal, in dem sie auf die Treppe zuläuft, die nach Oben führt. Hazel folgt ihr, auch wenn die Treppe unter Lunas Schuhen knarrt und ächzt, als würde das Haus ihre Anwesenheit nicht willkommen heißen.

Oben angekommen, laufen sie nach rechts, biegen in eines der kleinen Zimmer ab. Es ist nicht mehr erkennbar, ob hier einmal ein Kind oder ein Erwachsener gewohnt hat, nur dass schon lange kein Mensch mehr einen Fuß auf den fleckigen Teppichboden gesetzt hat ist sicher. „Wohin jetzt?″, keucht Luna und schließt die Tür hinter ihnen, die den Anschein macht jeden Moment aus ihren Angeln zu brechen. „Aufs Dach″ Hazel reißt die Balkontür auf, die knackend nachgibt und setzt einen Fuß auf den Balkon. Lange wird er sie nicht halten können. Sie sieht sich um, es gibt keine Feuerwehrleiter. „Wir müssen zurück, das Treppenhaus suchen", sagt Hazel und dreht sich bereits um, setzt einen Schritt nach vorne und hört ein weiteres Knacken. Sie erstarrt, der Balkon ächzt und bebt unter ihr als würde er jeden Moment zusammenbrechen. „Beweg dich nicht.″, in Lunas Stimme und Augen spiegelt sich die Panik wider, die sich langsam in Hazel ausbreitet. „Soll ich springen?″ „Nein, von hier aus brichst du dir mindestens ein Bein und kannst nicht mehr laufen.″

Lunas Blick wandert nach hinten, sie haben nicht mehr viel Zeit bis ihre Verfolger sie eingeholt haben. Hazel kniet sich langsam hin, lehnt sich weiter nach vorne bis ihr Bauch den Boden berührt und bleibt liegen.
„Was machst du da?″
„Mein Gewicht verteilen, vielleicht schaffe ich es zurück zu robben.″
Alles andere als begeistert von der Idee schüttelt Luna ihren Kopf. „Der Balkon wird dich nicht halten.″ Tatsächlich ist das auch Hazels Vermutung, aber ihr bleiben nichts anderes übrig. Sie war noch nie ängstlich, aber der Gedanke von hier aus in die Tiefe zu stürzen löst ein Ziehen in ihrem Magen aus, das bis zu ihren Zehenspitzen reicht. „Ich muss es probieren, wenn der Balkon einstürzt warte nicht auf mich, sondern versuch Hilfe zu holen.″ Nach den Worten zögert Hazel noch einige Sekunden, überlegt statt auf ihren Verstand zu hören ihrem Magen die Kontrolle zu überlassen.

Sie atmet tief durch bevor sie ihren Körper in Bewegung setzt, langsam tastet sie sich voran, zieht sich mit ihren Händen nach vorne. Das ungeschliffene Holz bohrt sich in ihrer Haut mit jedem Zentimeter, dem sie ihrem Ziel näher kommt. Schweiß bildet sich auf ihrer Stirn, der kalt ihre Stirn hinunterläuft bis er auf ihrer Jacke landet. Mit zittrigen Händen arbeitet sie sich weiter vor, kneift die Augen zusammen, wenn sie nach vorne rutscht. Auch das Stück ist geschafft. Hazels Angst verflüchtigt sich immer mehr, über die Hälfte ist geschafft ohne Zwischenfälle. Selbst Luna sieht nicht mehr so angespannt aus, ihre Mundpartie löst sich langsam aus der Verkrampfung, die ihr Gesicht vorhin zu einer starren Maske hat, werden lassen. Tief atmet Hazel ein und aus, setzt erneut an um sich wieder ein Stück nach vorne zu ziehen. Ihr Herz setzt aus, ihre Hände reißen an dem Holz als ein lautes, endgültiges Knacken ertönt und Lunas Gesicht vor ihr verschwimmt.

TickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt