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Die Straßen sehen fremd aus, anders als sie es gewohnt ist, zwar genauso überfüllt, aber verschmutzte und schmaler. Wie ein Fluss, schlängeln sich die dünnen Wege um die hohen Häuser, bis zum Stadtkern, wo die Straßen zu einem Kreis zusammenlaufen. „Wieso brauche ich keine Maskierung?″ Zuerst ist sie sich unsicher, ob er ihre Frage überhaupt gehört hat, aber als er die Unterhaltung mit dem Fahrer unterbricht und sie durch den Rückspiegel anblickt, schluckt sie die nächsten Worte wieder hinunter.

„Dein Gesicht wurde zensiert, es wäre viel zu riskant gewesen es öffentlich zu zeigen. Wir werden es wahrscheinlich nicht zu der Unterkunft schaffen, die Proteste sind in der ganzen Stadt verteilt. Das Beste, was wir tun können ist improvisieren″

Vor lauter Rauch sieht man kaum noch die Straße oder die Häuser. Der Anblick lässt ihre Kehle trocken werden und löst den Drang aus sich die Augen zu reiben, bis das brennende Gefühl verschwindet. „Was meinst du mit improvisieren?″ Dieses Mal ist es Runa, die eine Frage stellt. „Wenn wir an dem Protest nicht vorbeikommen werden wir einfach ein Teil des Protestes, wenn nicht sogar der Hauptteil.″
Der Lärm ist atemberaubend als sie aus dem Wagen aussteigen, der mitten auf der Hauptstraße steht. Die Autos vor ihnen sind verlassen worden, zum Teil mit offenen Türen und angelassenem Blinker, andere stehen in Brand.

Die Menschenmenge bewegt sich in die Richtung eines Platzes, dessen Name Hazel vergessen oder noch nie gehört hat. Sie schreien durcheinander, halten abgewetzte Schilder hoch und zerstören alles, was in ihrem Weg ist. Ein schreckliches Bild von dem Hazel kein Teil sein will. Der Fahrer und die anderen beiden Männern gehen voran, bahnen ihnen langsam einen Weg durch die Menschen. Sie sieht auf den Boden, den grauen Asphalt, der das Einzige ist, was sich nicht von ihrer Heimat unterscheidet, die einzige Sicherheit an die sich klammern kann. Als das Gedränge dichter wird, hebt sie kurz den Blick, lange genug um ihr Ziel zu erkennen.
Eine Bühne, zumindest mit viel Fantasie lässt sich der notdürftig zusammengezimmerte Holzhaufen so nennen. Er ist gerade hoch genug um die Oberkörper der Redner über der Masse ragen zu lassen, als würden sie schweben, mitten in all dem Rauch und Stimmen Geschwirr. Jeden Zentimeter müssen sie sich erkämpfen, es fühlt sich an als wäre die Luft zähflüssig und würde versuchen die Vier an Ort und Stelle festzuhalten, als schwämmen sie in Honig. Hazels Kopf ist leer gefegt als sie nach Luna auf die Bühne springt. Der Lärm bricht kurz danach aus, empörte Rufe und Pfiffe schallen über den Platz, als die Menge sie bemerkt. Die vier Maskierten, die bereits vor ihnen auf der Bühne waren, kommen auf sie zu, werden aber von den zwei Fahrern aufgehalten.

Die Buhrufe werden noch lauter. Harvey lässt sie rufen, stellt sich in aller Seelenruhe in die Mitte der Bühne und blickt in die Menge. Erst als Hazels Trommelfell zu platzen droht, handelt er. Mit einer Bewegung zieht er das Tuch von seinem Gesicht, lässt seine Tarnung fallen. Kurz dauert es bis die Ersten ihn erkennen und es ruhig wird, die Schreie in der Luft verwehen und die Menge erstarrt. Der Startschuss ist gefallen. „Ich bin wütend, genau wie ihr. Wütend auf unsere Regierung.″ Es wird applaudiert und zustimmend gerufen, nachdem er die Worte ausspricht. Die Bühne scheint zu Beben, bei all dem Lärm und der Bewegung der Menschen. „Aber blinde Zerstörung hilft uns nicht, wir müssen uns gegen die Regierung wehren anstatt uns und unseren Besitz gegenseitig angreifen. Wir müssen ein Zeichen setzen. Ein Zeichen, das nicht ignoriert werden kann.″ Wieder Zustimmung, diesmal lauter und euphorischer als zuvor, die Wut und die Flammen glänzen in Harveys Augen, spiegeln den Zorn der Menschenmenge wider. „Sie müssen brennen.″

Hazel muss sich an Runa festhalten um sie und Josephine nicht zu verlieren, als die Menge anfängt sich zu bewegen, loszulaufen um das Durchzuführen, was Harvey ihnen befohlen hat. Er hört sie nicht, als sie seinen Namen schreit, versucht ihn von All dem abzubringen, stattdessen läuft er weiter. Die Fahrer sind direkt hinter ihr, wahrscheinlich um sicherzugehen, dass sie nicht die Flucht ergreift, was im Anbetracht der Überfüllung des Platzes, eh nicht möglich wäre. Die Rufe hallen von den Wänden wieder, als sie den Platz verlassen und in eine der Gassen abbiegen, die auf eine der Straßen mündet, die sich durch die Stadt schlängeln. Als sie nach oben sieht, entdeckt sie alte und junge Menschen, die auf ihren Balkon stehen und dem Mob betrachten, rufen oder einen ihrer Arme in die Luft strecken. Es ist schwer sich nicht von dem Aufbruchsgefühl mitreißen zu lassen, seine eigenen Sorgen aus seinem Kopf zu vertreiben und die Euphorie durch seinen Körper fließen zu lassen, aber Hazel bleibt stark. Ihr Blick liegt auf Harveys Hinterkopf, nicht auf den Scherben der Schaufenster oder den ausgebrannten Autos.

Vor lauter Wut beißt sie die Zähne zusammen, knirscht mit ihnen als einer der Fahrer sie an der Schulter berührt, als sie leicht vom Kurs abweicht. Sie konzentriert sich wieder auf die Straße, solange bis sie Runa bemerkt, die sich kurz zu ihr umdreht, bevor sie losrennt. Erst jetzt bemerkt Hazel die kleine Lücke, die Runas Ziel zu sein scheint. Ihre Beine scheinen sich immer schneller zu bewegen, um so näher sie dem Ausweg ist. Sie will auch loslaufen, ihr folgen, aber sie stoppt als sie wieder eine Hand auf ihre Schulter spürt, die sie ruckartig zurückzieht. Runa ist fast da, nur noch ein paar Meter fehlen ihr. Die Luft anhaltend starrt Hazel auf ihre Schuhe, die kurz davor sind den Bürgersteig zu erreichen. Aber sie bleibt stehen, gestoppt von zwei Maskierten, die anscheinend zu Harvey gehören. Hazel schluckt, für einen kurzen Moment hat sie tatsächlich geglaubt, sie würde es schaffen.

Durch den Druck an ihrer Schulter muss sie automatisch schneller gehen und findet sich so neben Harvey wieder, der sich kurz zu ihr umdreht. Anders als Hazel gedacht hat, sagt er sich nichts zu Runas Fluchtversuch, sondern nimmt sie an ihren Arm und hält sie so fest, als sie weiter laufen. Sie versucht ihn wegzuziehen, scheitert aber dabei und gibt auf, als der Griff nur noch stärker wird. Wenigstens wird sie nicht mehr angerempelt oder umgerannt, aber wohl ist ihr neben Harvey trotzdem nicht. Sie zuckt zusammen als ein Schuss ertönt und die Menge erstarrt. Alles bleibt stehen, als Hazel, wie alle Anderen nach vorne starrt, wo die ersten Polizisten auf den Aufstand trifft. Dann kommt der nächste Schuss, die Stille ist vorbei und die Schreie sind so laut, dass Hazel sie nach wenigen Sekunden gar nicht mehr richtig hört. Die ersten fangen an zu rennen, versuchen sich zu retten, in dem sie Andere zur Seite schubsen, die auch die Flucht ergreifen. Panik bricht aus, neue Schüsse fallen. Harvey zieht sie zur Seite, während ihre Fahrer versuchen ihnen Platz zu machen. Runa, Luna und Josephine sind vor ihnen, müssen immer wieder Menschen ausweichen und klammern sich aneinander, um nicht im Strudel verloren zu gehen.

Einer der Polizisten fällt um, der Grund dafür steht nicht weit hinter ihm, ein Mann, der dieselbe Maske trägt wie Harvey und ein Gewehr in der Hand hält. Die Maske ist schwarz, mit einem langen, weißen Strich, der die Mitte der Maske teilt.
Der Kampf hat begonnen. Schnell ist der Mann nicht mehr alleine, aber das bekommt Hazel nur am Rand mit, als sie endlich den Bürgersteig erreicht haben. Luna sieht verängstigt aus, ihre langen, schwarzen Haare sind wirr durcheinander und ihre braunen Augen aufgerissen. „Wir müssen weg von hier, am besten wir gehen zu Fuß", sagt Harvey, während er seine Maske richtet, die nach oben gerutscht ist. „Ich gehe nirgendwo hin", erwidert Runa scharf, als die Fahrer hinter ihnen auftauchen. „Du willst dich alleine durchschlagen? Grandiose Idee, wenn du nicht von der Regierung mit Hochdruck gesucht werden würdest und dich in Mexiko einigermaßen auskennen würdest.″ Darauf erwähnt sie nichts mehr, sondern starrt Harvey wütend an. Hazel würde sie gerne unterstützen, allerdings fällt ihr nichts ein, was seinen Worten entgegenzubringen ist.

Das Geräusch von Metallblättern unterbricht ihre Unterhaltung, die ersten Helikopter stehen am Himmel, auf ihren Bauch das  Regierungs- wappen. Kein gutes Omen. Die schwarze Farbe glänzt in der Sonne, lässt das Metall aussehen als wäre es mit Pech bestrichen worden, als sie näher kommen. „Wir sollten abhauen.″ Auch dieses Mal kann sie nichts an seinen Worten aussetzten, stattdessen hört Hazel auf das Gefühl, dass sich in ihr ausbreitet, Angst. Sie ist die erste, die auffängt zu rennen, als der Helikopter beginnt Jagd auf sie zu machen.

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