Epilog

3.1K 133 28
                                    

Leise seufzend sah ich auf das Grab vor mir. Es tat schon weh. Sie war mir in der kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen. Ich hörte ein Schluchzen neben mir und sah auf. Harry biss sich auf die Lippe und ein Beben ging durch seinen Körper. Er weinte leise. Sofort ließ ich seine Hand los, um meinen Arm um seine Taille zu legen und ihn näher zu mir zu ziehen.

„Shhh", murmelte ich. „Es ist okay." Ich drückte meinen Freund so fest ich konnte an mich und zeigte ihm einfach nur, dass ich bei ihm war. Er weinte weiter leise vor sich hin. Aber das war okay. Es war normal, dass er traurig war. Sie hatte ihm viel bedeutet.

„Larissa hatte immerhin ein langes glückliches Leben", flüsterte er nach einer Weile leise. „87 Jahre sind ne lange Zeit."

Er schniefte noch einmal und nickte dann langsam. „Okay. Wir können gehen."

Wir waren die Letzten, die noch hier waren. Abgesehen von John und Mum, die etwas abseits auf einer Bank saßen und auf uns warteten. Aber außer uns waren eh nicht so viele Leute da gewesen. Nur drei Pfleger, die für sie zuständig gewesen waren und eine andere alte Dame. Außerdem noch eine junge Frau, die bei der Trauerfeier in der letzten Reihe gesessen hatte, aber die kannte niemand.

Die Trauerfeier war wirklich schön gewesen. Harry hatte ein Stück für Larissa komponiert und es auf dem Klavier in der kleinen Kapelle gespielt. Es war absolut atemberaubend gewesen. Ich seufzte leise.

Die anderen Gäste waren jetzt jedenfalls schon weg. Harry hatte lange gebraucht, um sich langsam zu verabschieden. Aber wer konnte es ihm verübeln? Larissa war sechs Jahre lang eine der wichtigsten Personen in seinem Leben gewesen.

Als Harry 12 gewesen war hatte er sie kennengelernt. Kurz nach dem Tod seiner Mutter. Seine Therapeutin hatte es ihm empfohlen und das Altenheim hatte sowieso nach etwas Gesellschaft für Larissa gesucht. Sie war mit den ganzen anderen Leuten nicht besonders gut klargekommen. Sie war noch zu lebensfroh gewesen. Und zu schnell im Denken.

Und dann war Harry gekommen und es hatte einfach irgendwie gepasst. Larissa hatte jemanden gefunden, der mit ihr spazieren ging, Schach spielte, über die Welt diskutierte und philosophierte und dem sie alles über ihr abenteuerreiches Leben erzählen konnte. Und Harry hatte jemanden gefunden, der ihn nicht bedrängt, ihn mit Samthandschuhen angefasst und in Watte gepackt oder bemitleidet, sondern ihn einfach abgelenkt hatte. Am Anfang war er einmal pro Woche zu Larissa ins Altenheim gegangen, um Zeit mit ihr zu verbringen und ihren Geschichten zu lauschen, dann immer öfter und bald war er fast jeden Tag für wenigstens eine halbe Stunde bei Larissa vorbeigekommen. Und er hatte sich bei ihr öffnen können. Sie war eine Außenstehende, hatte seine Mutter nicht gekannt und so konnte er ihr damals alles erzählen. Wie es ihm ging, wie schrecklich es für ihn war und wie sehr er seine Mutter vermisste. Und auch alles andere aus seinem Leben. Larissa wusste nach einiger Zeit jedes kleinste Detail über Harry und er wusste jedes kleinste Detail über sie. Er war für sie ein bisschen der Sohn gewesen, den sie nie gehabt hatte und sie für Harry die Großmutter, die er nie gehabt hatte. Und gleichzeitig einfach seine beste Freundin. Das Alter hatte bei den zweien nie wirklich eine Rolle gespielt.

Als ich rausgefunden hatte, dass Larissa eine 87-jährige Frau war, mit der Harry seine Zeit verbrachte, hatte ich mich wirklich zusammenreißen müssen nicht zu lachen. Der Spruch „Larissa der Woche" war ja wohl sehr unpassend gewesen und sowieso hatte ich Harry was das anging sehr falsch eingeschätzt.

Und ich hatte Larissa kennengelernt. Ihren Segen hatte ich aber laut ihr schon bekommen, als Harry das erste Mal von mir gesprochen hatte und sie sofort das Leuchten seiner Augen identifizieren konnte. Sie hatte vor ihm gewusst, dass er in mich verliebt gewesen war. Beziehungsweise immer noch war. Jedenfalls war sie wirklich eine tolle Frau.

Gewesen.

Und sie hatte Harry sehr viel geholfen in den letzten Jahren. Es war hart für Harry sie jetzt zu verlieren. Aber sie hatten einen schönen Abschied gehabt. Einen ganz normalen Nachmittag zusammen, an dem alles perfekt gewesen war. Schach im Garten des Heimes, Diskussionen über Trumps Politik und die Musik der Beatles und Harry hatte zum hundertsten Mal die Geschichte von Larissa und ihrer großen Liebe Jakob hören wollen, die tatsächlich ziemlich filmreif war.

Sie hatten viel gelacht, geredet und sich gegenseitig gesagt wie glücklich sie doch gerade waren. Und als Larissa in der Nacht eingeschlafen war, war sie am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht.

Ich bildete mir ein, dass Larissa erst sterben konnte sobald sie wusste, dass Harry alleine klar kam. Das ergab irgendwie Sinn für mich. Es war Schicksal gewesen. Sie hatten sich kennengelernt in der schwersten Zeit seines Lebens und Larissas Aufgabe ihm zu helfen und das Gute in sein Leben zu bringen war jetzt getan, also hatte sie gehen können. Egal, wie kitschig das klang, genau so stellte ich mir das vor.

Harry und ich waren unglaublich glücklich zusammen. Er ließ mich auf Wolken schweben und wenn wir uns mal stritten konnte keiner von uns lange sauer sein. Spätestens nach drei Stunden kam einer wieder angekrochen.

Harry hatte einiges durchmachen müssen in seinem Leben. Genau wie ich. Aber jetzt hatten wir einander gefunden. Und ich würde ihn nie wieder hergeben, das wusste ich.

Harry sah ein letztes Mal auf das Grab und wollte sich zum Gehen wenden, doch plötzlich war da dieser Gedanke in meinem Kopf, dem ich unbedingt nachgehen musste.

„Harry?", flüsterte ich und hielt ihn an seinem Jackett fest.

„Ja?" Er sah mich aus seinen verweinten Augen an, seine Hände an meiner Hüfte. Ich legte meine Hände an seine Wangen, strich eine Träne, die dort noch verweilte weg und sah ihm fest in die Augen.

"Ich liebe dich", sagte ich ganz ernst und sah erwartungsvoll in sein Gesicht. Es war das erste Mal, dass einer von uns es aussprach. Aber es stimmte. Ich liebte Harry.

Seine Stirn glättete sich und er begann zu lächeln. Dann zu grinsen. Und schließlich strahlte er. Obwohl er immer noch vor dem Grab stand, aber das schien er nicht mehr wahrzunehmen. Er schloss kurz die Augen und als er sie öffnete glitzerten sie wieder verdächtig, aber diesmal aus Rührung.

„Ich liebe dich auch, Caleb. Über alles." Seine grünen Augen musterte mich, als wäre ich das Kostbarste auf der Welt und sofort fühlte ich mich unbeschreiblich gut. Was er in mir auslösen konnte war wirklich krass. Ich liebte diesen Mann mit meiner ganzen Seele, so viel war mir klar.

Und dann beugte er sich zur mir und küsste mich. Und ich küsste ihn.

„Danke, dass du diesen Tag mit einer so schönen Erinnerung gefüllt hast", flüsterte er dann, als er sich kurz von mir löste und seine Stirn an meine legte. „Ich liebe dich so sehr. So sehr!" Und wieder legte er seine Lippen auf meine.

Es war perfekt. Obwohl wir aus einem traurigen Anlass hier standen. Auf dem Friedhof. Der Moment war perfekt.

Und das würde er auch für immer bleiben.

driving me fuckin' crazy.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt