5 - Schicksal

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Fünf Stunden später meldete Jules den ersten Erfolg. Es war ihm gelungen, einen winzigen Teil der Speicherlunge vor dem Verfall zu bewahren und zu stabilisieren. Meine Begeisterung erhielt leider einen kräftigen Dämpfer, als er mir seine Berechnungen zur verbliebenen Kapazität vortrug.

„Ich habe keine Ahnung, wie groß des Lungenvolumen einer Katze ist, aber wenn wir vom Körpergewicht ausgehen, dürfte der Oxwandler etwa genug aufbereiteten Sauerstoff in die Atemluft einspeisen, um Pilot das Überleben zu garantieren."

Ich versuchte, ein fröhliches Grinsen aufzusetzen, war aber sicher, dass es wie eine Grimasse wirkte.

„Besser als nichts. Ich hoffe bloß, dass die auf Europa ihn hier rausholen, wenn das Schiff dort ankommt."

Bedrückt wandte ich mich wieder meiner Aufgabe zu und maß die Mikroströme im reparierten Teil der Anlage, bevor ich sie sorgfältig zusammenbaute. Jules arbeitete verbissen weiter und versuchte, die zerstörten Lungenzellen wieder zum Leben zu erwecken.

Ich konnte ihm dabei nicht helfen und beschloss, auf die Brücke zurückzukehren, statt ihm auf die Nerven zu gehen. Als erstes braute ich zwei Becher synthetischen Kaffee und brachte einen davon in den Maschinenraum. Danach machte ich es mir im Kommandantensessel bequem, den schlafenden Pilot auf den Knien, schlürfte von der bitteren Brühe und studierte Betriebshandbücher.

Ein unbekannter, beängstigend ordentlicher Vorbesitzer des Schiffs hatte sie in einem verstaubten Fach eingelagert. Die meisten halfen mir nicht einen Zentimeter weiter, aber in dem Stapel fand ich einen zerfledderten Ausdruck der Anleitung für die Oxeinheit. Das Dokument kam mir bekannt vor, insbesondere der große Kaffeefleck auf der Titelseite. Ich musste es selbst vor zwei Solperioden abgelegt haben, kurz nachdem ich die Anlage hatte einbauen lassen. Normalerweise hätte es mich beängstigt, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte. Aber heute beschäftigten mich andere Prioritäten.

„Hey, Jules!"

Das Klopfen unten im Maschinenraum brach unverzüglich ab. Trotz unserer verzweifelten Situation war es angenehm zu wissen, dass mein unfreiwilliges Crewmitglied dem Captain Beachtung schenkte.

„Hier steht, dass im Notbetrieb der Speicher überbrückt werden kann."

Hastige Schritte ließen die Treppe erzittern. Außer Atem beugte Jules sich über den unansehnlichen Ausdruck, nur um gleich enttäuscht das Gesicht zu verziehen.

„Was ist denn?"

„Kannst du dieses Gekritzel lesen?"

„Na klar, das ist griechisch. Außerdem ist es nicht gekritzelt, sondern gedruckt. Auf echtem Papier, das ist eine Rarität. Hast du ein Problem damit?"

„Mit dem Papier nicht. Aber griechisch? Wer versteht denn schon griechisch?"

Ich beehrte ihn mit einem betont finsteren Blick. Warum ich die Anleitung ausgerechnet auf griechisch ausgedruckt hatte, blieb mir auch ein Rätsel. Vielleicht war ich gerade in nostalgischer Stimmung gewesen und hatte mich nach einer friedlichen Insel im Mittelmeer gesehnt. Aber Jules brauchte nicht zu wissen, wo meine Schwachpunkte lagen.

„Hör auf, meine Vorfahren zu beleidigen."

„Deine Vorfahren? Ich dachte, die kommen irgendwo aus Afrika."

Ich zuckte die Schultern. Gerade eben interessierte es mich weniger, woher meine Vorfahren kamen, als ob ich noch Gelegenheit erhalten würde, Nachkommen zu zeugen.

Ehrlich gesagt habe ich nie herausgefunden, wer mir den dunklen Teint vererbte. Mag sein, dass eine griechische Ururgroßmutter einen afrikanischen Ururgroßvater heiratete. Oder umgekehrt. Möglicherweise war er auch Australier. Meine Mutter behauptete zumindest immer, sie habe auf jedem irdischen Kontinent Vorfahren. Als Kind war ich überzeugt gewesen, dass darunter auch ein Pinguin sein musste. Ich meine, es gibt ja keine anderen Einheimischen in der Antarktis.

Und mein Schiff heißt Nemesis | Wattys 2021 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt