26 - Tauwetter

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Ein sanftes Rütteln an der Schulter weckte mich aus einem unruhigen Schlaf. Ich blinzelte in Jules abgehärmtes Gesicht und rappelte mich auf. „Ugh. Waren das schon wieder zwei Stunden?"

Jules Augen waren rot und von dunklen Ringen umrahmt. Er wirkte ebenfalls nicht, als würde er unser momentanes Arrangement besonders genießen. Aber vermutlich sah ich keine Spur besser aus.

„Komm schon, Lo, wir müssen den nächsten Schub auslösen. Ich hoffe bloß, dass Ludmilla demnächst wieder hier aufkreuzt."

Keine andere Bemerkung hätte mich schneller in die unangenehme Gegenwart zurückgeholt. Wir näherten uns der kritischen Phase. Die zwölf Stunden, die sich Ludmilla ausbedungen hatte, waren längst vorbei. Tatsächlich hatten wir bereits die 36-Stundenmarke überschritten, und näherten uns damit dem Moment, den wir beide fürchteten.

Sarah hatte das versprochene Aggregat schon längst geliefert und seitdem war zumindest die Stromversorgung gesichert. Selbstverständlich hatten wir keine Schwankungen in der Primärversorgung mehr beobachtet, sobald wir die Backup-Einrichtung installiert hatten. Aber das war ja in solchen Situationen üblich. Dennoch erforderte jeder Energieschub Jules und meine volle Aufmerksamkeit. Das bedeutete, dass seit vorgestern keiner von uns mehr als eineinhalb Stunden am Stück geschlafen hatte.

Ich stemmte mich von unserem behelfsmäßigen Bett hoch und nahm meine gewohnte Position an der Überwachungsstation ein. Jules nickte mir bestätigend zu, bevor er den Prozess einleitete. „Bereit? Dann mal los."

Die Werte auf meiner Anzeige schnellten hoch und ich zuckte unwillkürlich zusammen, obwohl ich nun schon so oft Zeuge des Vorgangs gewesen war, dass ich mich hätte daran gewöhnen müssen. Immerhin blieben die Schwankungen im Toleranzbereich.

„Sieht gut aus, Jules. Allerdings ist die Vorbereitungsphase jetzt definitiv abgeschlossen. Das war der letzte Schub nach diesem Protokoll." Ich hasste es, dass meine Stimme gestresst klang. Jules konnte genauso wenig tun, wie ich.

Er zuckte die Schultern. „Ich dachte, ich gehe mal nach oben und versuche Kontakt mit
Sarah zu bekommen. Sie ist wohl die einzige, die wir möglicherweise erreichen und die uns weiterhelfen kann. Dann mache ich uns was zu essen und studiere die Anleitung für die nächsten Schritte."

Eigentlich war er an der Reihe, eine Mütze voll Schlaf zu genießen. Ich hatte nun beinahe ein schlechtes Gewissen, dass ich mich während der letzten Periode hingelegt hatte. „Ich kann die Anleitung studieren, während ich auf die Werte aufpasse. Oder ich gehe hoch und mache uns was zu essen."

„Ich bin ehrlich gesagt froh, wenn ich kurz meine Beine vertreten und gewisse Geschäfte erledigen kann. Aber ja, schau mal in die Anleitung rein. Besser wir wissen beide Bescheid!"

Er winkte mir kurz zu, bevor er die Treppe hinaufstieg. Eigentlich war es ein Wunder, dass wir uns noch nicht auf die Nerven gingen. Wir bekamen beide zu wenig Schlaf und hatten die Verantwortung für einen Prozess, von dem wir nichts verstanden. Nun, wenn alles rund lief, würden wir uns in weiteren zwölf Stunden endlich hinlegen und ausschlafen können, was auch immer das Resultat unserer Bemühungen war.

Ich rief auf meinem Schirm das Dokument auf, das Sarah mir auf einem verschlüsselten Datenträger in die Hand gedrückt hatte, als sie das Aggregat ablieferte. Ihre begleitenden Worte waren kryptisch gewesen. „Hier, Ludmilla wurde in den Stationsrat berufen. Sie hat mich gebeten, dir diese Installationsanleitung für die Stromversorgung zu geben. Viel Erfolg bei der Reparatur."

Ich hatte ihr verständnislos nachgeblickt. Erst als Jules es schaffte, den Datenträger ans Bordsystem der Nemesis anzuschließen, begriff ich. Ludmilla musste bereits geahnt haben, dass sie nicht rechtzeitig an Bord zurückkehren würde. Deshalb hatte sie es auf sich genommen, uns eine detaillierte Beschreibung des Weckvorgangs zuzustellen.

Und mein Schiff heißt Nemesis | Wattys 2021 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt