10 - Papierkram

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Der Beamte tat mir echt leid. Offenbar waren Jules und ich nicht die einzigen, die gerade eine harte Zeit durchmachten. Ich meine, Papier und Bleistift? Ich hatte keine Ahnung, wann ich zum letzten Mal einen Stift in der Hand hielt, und fragte mich, in welcher längst vergessenen Abstellkammer einer Raumstation sie so etwas wie gedruckte Formulare ausgegraben hatten.

Diesmal war mein Lächeln echt. „Nun, immerhin bin ich nicht die Einzige mit einem Problem. Mein Name ist Lo. Kann ich irgendwie helfen?"

Er sah mich überrascht an, und seine erschöpften Züge entspannten sich etwas.

„Freut mich, Lo. Nenn mich Pete. Wenn du alles, was du mir erzählt hast, noch einmal kurz wiederholen kannst? Ich versuche, mitzuschreiben. Aber versprich dir nicht zu viel, ich habe das vor Jahren zuletzt gemacht, als ich bei den Pfadfindern war. Überleben ohne technische Hilfsmittel und sowas."

Er hatte nicht gelogen. Für ihn war es offensichtlich ungewohnt, den administrativen Kram mit einem Stift zu erledigen, der über echtes Papier kratzte. Ich hätte nicht mit ihm tauschen wollen. Mehrmals brach ihm die Spitze ab, und er musste sein Schreibwerkzeug mit einem Messer nachschärfen. Das war irgendwie zu komisch, und als er merkte, wie ich mir das Lachen verkniff, prustete er selbst los. Das Ausfüllen des Formulars dauerte endlos, aber wenigstens hatten wir Spaß dabei.

Gewisse Vorteile der altmodischen Methode wurden mir rasch klar. Papier fehlt die Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt der Worte zu überprüfen, die in unendlicher Langsamkeit mit krakliger Schrift darauf entstehen. Vermutlich würde sich niemand die Mühe machen, Jules Personalien im Detail zu überprüfen.

Ich beschränkte meinen Bericht aufs Nötigste, meldete meine Passagiere als vermisst, gab ihre Namen an und erwähnte, dass sie meine Rettungskapsel in einer nicht unmittelbar lebensgefährlichen Situation entwendeten. Nichts davon war falsch. Aber der Gedanke, dass unsere Luft kaum für vier Personen gereicht hätte, ließ mich nicht los. Vermutlich hatte die Prinzessin mit ihrer unbesonnenen Tat unser Leben gerettet.

Pete akzeptierte eine Kopie meines Logbuchs und reichte mir den Besucherpass für die Station. Ich stecke den Chip in die Tasche und bedankte mich. Er zuckte die Schultern. „Kein Problem, Lo. War nett, dich kennenzulernen. Viel Spaß auf Europa. Ich werde eine Meldung an die auslaufenden Schiffe nach Sol-1 durchgeben, dass da draußen eine Kapsel mit zwei Personen driftet. Vielleicht haben die beiden ja Glück."

Die Falte auf seiner Stirn verriet mir, dass er daran genauso zweifelte wie ich. Aber keiner von uns hatte Lust, darauf einzugehen. Trotzdem nagte tief in mir das schlechte Gewissen. Ich lebte, und sie waren wohl tot. Pete nahm sein Klemmbrett auf und reichte mir die Hand. „Für einen Ersatz der Luftanlage siehst du dich am besten im inneren Ring um. Das ZK wird dich kontaktieren, wenn es Neuigkeiten für dich gibt."

Ohne weiteres Prozedere stand mir der Zugang zur Station offen. Zum Teufel mit meinen Vorahnungen, offensichtlich hatte ich mir vergeblich Sorgen gemacht. Typisch Lonnie, immer auf das schlimmste gefasst.

Unvermittelt sah ich mich vor die Entscheidung gestellt, zu Nemesis zurückzukehren oder mich in den Hauptteil der Station zu begeben. Beides hatte seine Vor- und Nachteile. Jules wartete bestimmt gespannt auf Neuigkeiten. Ich könnte ihm versichern, dass sein Steckbrief nicht höchste Priorität bei der Stationsbehörde besaß und überall ausgehängt war.

Andererseits konnte das auch noch eine Stunde warten, während ich mich kurz auf der Station umhörte. Vielleicht wusste Marsh etwas mehr über die Explosion und die Rebellion, die Pete angesprochen hatte. Außerdem war es eine alte Tradition, als allererstes in seiner Bar vorbeizusehen, wenn ich ankam. Und in meiner Situation war es wohl am besten, meine gewohnten Verhaltensmuster beizubehalten.

Und mein Schiff heißt Nemesis | Wattys 2021 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt