Und mein Schiff heißt Nemesis | Wattys 2021 Shortlist

18 - Pläne

Ludmillas Neuigkeit traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Bisher war ich davon ausgegangen, dass Europa nicht die Mittel besaß, die tiefgekühlten Passagiere der Nemesis aufzutauen. Wenn wir sie nun tatsächlich wiederbeleben konnten, klärte sich vielleicht die ganze Situation und ich war aus dem Schneider. Vielleicht.

Andererseits hatte die Dame von Schroeder bereits vor dem Zwischenfall mit der Luftversorgung gedroht, mir Ärger zu machen. Wenn sie das durchzog, und das traute ich ihr durchaus zu, wurde ich vermutlich für eine Entführung zur Rechenschaft gezogen, mit der ich nicht das Geringste zu tun hatte. Meine aufflackernde Erleichterung verglühte wie ein Meteor in der Atmosphäre.

Marsh schien mit seinen Überlegungen noch nicht am gleichen Punkt angelangt zu sein. Er wendete sich mit gerunzelter Stirn an Ludmilla. „Heißt das, du kennst dich damit aus, Gefrierschläfer aufzutauen?"

„Sagen wir mal, ich habe das schon gemacht, auch wenn es bereits eine Weile her ist." Sie drehte ihre Tasse in den Händen. „Es gibt mehr als einen Weg. Einige sind einfach, andere komplizierter. Hängt stark davon ab, wie schnell der Gefriervorgang vor sich ging und wie lang der Zustand schon anhält."

„Höchstens sechs Tage oder so." Jules sah mich an. Mir fiel erst jetzt auf, dass seine Augen gerötet waren. Ich fragte mich, ob er überhaupt geschlafen hatte. „Wir wissen nicht, wie lange die beiden brauchten, um den Einfrier-Prozess der Kapsel zu aktivieren. Kann sein, dass sie es wirklich erst taten, als ihnen die Luft ausging."

„So oder so ist das nicht lang. Da werden wir kaum Kompensationsmassnahmen benötigen." Ludmilla holte ein handtellergroßes Gerät aus der Tasche und begann, es mit Daten zu füttern. Alle sahen gespannt zu, wie ihre Finger über eine matte, dunkle Oberfläche huschten. Ich musste mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte, was sie überhaupt berechnete.

Schließlich unterbrach Tanja das Schweigen. „Wir haben also die Wahl, die beiden aufzuwecken oder sie in ihrem jetzigen Zustand zurück zur Erde zu schicken, richtig?"

„Mhm." Ludmilla blickte von ihrem Rechner auf. „Beides hat allerdings seine Risiken."

„Und die sind?" Tanja war bisher sehr still geblieben. Es erstaunte mich aber nicht, dass sie alle Optionen abgeklärt haben wollte. Für die Station standen möglicherweise die politischen Beziehungen zur Erde auf dem Spiel.

„Wenn wir sie aufwecken, und es geht etwas schief, werden wir bestimmt zur Verantwortung gezogen. Andererseits haben wir hier mehr Erfahrung mit Kälteschlaf, selbst ohne Simon. Ich bezweifle, dass auf der Erde sich noch jemand mit dieser Technologie befasst, unter der neuen Regierung." Ludmilla legte das Gerät auf den Tisch. „Zudem dauert der Weckvorgang länger, je länger die Schlafphase anhält. Für Langzeitflüge spielt es keine Rolle, wenn das Auftauen ein oder zwei Jahre dauert. Die Methode wurde für Neukolonialisierungen entwickelt, nachdem sich herausstellte, dass Generationenschiffe risikobehaftet sind."

Das war eine Beschönigung. Ich erinnerte mich an die Erzählungen aus meiner Militärzeit. Es war nicht unüblich, dass sich auf Generationenschiffen eine Dynamik entwickelte, die zur Gefahr für alle Beteiligten degenerierte.

Berühmt wurde etwa das Schiff, dessen Offiziere nach drei Generationen der Überzeugung waren, sie seinen auserwählt, die Erde zu vernichten. Was ihnen beinahe gelang, da zunächst niemand auf der Erde an die finstere Absicht glauben wollte. Das Schiff wurde in letzter Minute abgeschossen, keine Überlebenden.

Ein anderes tauchte hundertfünfzig Jahre nach seinem Start in der Nähe von Neptun auf, hatte kurz Kontakt mit der dortigen Station, und steuerte dann in einer selbstmörderischen Kurve direkt in die Sonne. Die Aufzeichnungen von Neptun-3 ließen vermuten, dass an Bord religiöse Fanatiker das Sagen hatten.